Ich glaube, dass tief in uns drinnen ein kleines Plätzchen mit einem reichen Erinnerungsschatz ruht, das nur darauf wartet, von uns (wieder-)entdeckt zu werden. Dieses kleine Plätzchen, wenn wir es denn aufsuchen, kann uns Geschichten aus der Kindheit, vielleicht sogar aus anderen Zeiten und Welten, erzählen…

Es sind jedoch nicht nur Erinnerungen, die vor unserem geistigen Auge auftauchen; es sind längst vergessene Gefühle, die diese Erinnerungen begleiten.

So bereiten mir die Advents- und Weihnachtszeit, auch die » bedächtige Altjahreszeit, immer wieder solche Inseln der Seligkeit, auf die ich mich bereitwillig einlasse.

Dem war jedoch nicht immer so.

Viele Jahre weigerte ich mich, diese spezielle Zeit in mir aufzunehmen. Ich machte alles andere, um mich ja nicht zu besinnen.

Am Heiligabend zechte ich mit Gleichgesinnten in entsprechenden Lokalitäten. Wir prosteten uns zu und waren stolz, dieser heuchlerisch-frömmlerischen Weihnachtszeit die Stirne zu bieten.

Am darauffolgenden Weihnachtstag erwachte ich regelmässig mit einem dicken Brummschädel und es brauchte eine geraume Weile, bis ich wieder auf dem Damm gewesen bin.

Dieses Besäufnisritual ging dann so einige Jahre dahin bis zu besagtem Heiligabend.

Ich musste so um die Dreissig gewesen sein, als ich mich frohgemut zur «Heiligabend-Sause» in mein bevorzugtes Pub aufmachte. Schnee hatte es keinen. Doch lag ein zarter Raureif auf den Wiesen, Bäumen und Hausdächern. Der Mond spendete sein silbernes Licht dazu. Die Szenerie wirkte ganz eigentümlich auf mich.

«Jetzt fehlte noch, dass Engel die Posaunen blasen», meinte ich ein bisschen sarkastisch zu mir.

Doch ich konnte mich des seltsamen, mir unerklärlichen Gefühls nicht entziehen. Ich setzte mich auf eine nahe Bank und tauchte in eine mir vorerst unwirkliche Welt ein.

Doch plötzlich wurde mir gewahr, dass mir diese Welt als Kind sehr vertraut gewesen ist.

Es ist die von mir als Kind so geliebte Anderswelt gewesen, die mich an diesem Abend (wieder) aufgenommen hatte. Bilder stiegen in mir auf. Erinnerungen aus längst vergessenen Tagen.

Ich fühlte mich wie als kleiner Bub, der sich so sehr auf Weihnachten freute. Ja, auch auf die Geschenke. Das war mir jedoch nicht Hauptgrund meiner aufgeregten Freude gewesen.

Es war das Verbundensein mit dieser Anderswelt, mit all‘ den Wesen, die mich in dieser Zeit begleiteten.

Tief versunken auf der Bank sitzend, habe ich mich widerstandslos dieser Heiligen Nacht geöffnet und sie hat mir zugeraunt:

Ach öffnet doch
Ihr hartgefror’nen Knospen
Euer frühlingshaftes Rätsel meinen Augen.
Und strömet süss den Duft der Freude
Tief in mein offen Herz herein.

Seit diesem Erlebnis mache ich jedes Jahr ein für mich stimmiges Weihnachtsritual.

Den Heiligabend habe ich exklusiv für mich gepachtet. Da gibt’s keine Besuche. Da bin ich unabkömmlich.

Wenn’s so richtig dunkel ist, gehe ich hinaus in die Natur. Mache im finsteren Wald ein munteres Feuerlein und setze mich hinzu. So kann ich die ganz eigene Stimmung für mich geniessen.

Es hat tatsächlich etwas an der Heiligen Nacht: Sie ist anders als die übrigen Nächte. Sie lässt mich spüren, dass ich Mensch geworden bin.

P.S. Dieses Heiligabend-Ritual mache ich übrigens seit über 20 Jahren nicht mehr alleine. Zusammen mit » Kunigunde geniesse ich den Frieden dieser Heiligen Nacht.

Dieser Friede wirkt für uns befreiend, macht uns beide glücklich und stärkt uns für ein weiteres Erdenjahr. Ach ja, hin und wieder lese ich ihr eine Weihnachtsgeschichte vor. Heute Abend zum Beispiel diese hier.

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