Vor vielen Jahren, als die Uhren in meinem Heimatdorf noch etwas langsamer tickten, die Männer ihren Durst in sechs Beizen stillen konnten und auch sonst tonangebend waren, geschah es, dass der Jahrgang 1956 eingeschult wurde.

Damals geschah solches noch im Frühling. Unmittelbar nach den Frühlingsferien. Eigentlich logisch, denn der Frühling gilt seit Menschengedenken als Symbol für den Beginn von etwas Neuem. Wir angehenden Erstklässler, damals wurde übrigens noch nicht gegendert, harrten also der neuen Dinge, die bald auf uns zukommen sollten. Jedes Kind kam in Begleitung der Mutter und diese schärfte ihrem Kind ein, ja still und aufmerksam zu sein.

Wir Kinder sassen also etwas aufgeregt in den alten Schulbänken, welche noch mit einem Tintenfass ausgerüstet waren und erwarteten unsere neue Lehrerin, die «Lehrgotte».

Sie sei noch sehr jung, erst kürzlich dem Lehrerseminar entlassen und deshalb sicher unerfahren im Umgang mit Schülern. So wenigstens kolportierten es die Männer an ihrem Stammtisch in den erwähnten sechs Beizen. Sie zweifelten also daran, dass eine solch junge Lehrperson und erst noch eine Frau (!) mit einer so grossen Kinderschar zurechtkomme. Wir waren damals eine stolze Schar von weit über 40 Kindern!

Die Stammtischler waren der Meinung, dass die «Lehrgotte» bald erkennen würde, dass die neumodische Unterrichtserziehung nicht funktioniere und dass körperliche Bestrafung immer noch das beste Mittel zur schulischen Erziehung sei. Tatsächlich war es zu dieser Zeit an den Schweizer Schulen noch üblich, Schüler durch körperliche Gewalt zu disziplinieren. Diese Praktiken wurden später als «schwarze Pädagogik» bezeichnet.

Fräulein Schneider, so hiess die Lehrerin, strafte die Stammtischler Lügen: Sie schaffte es nämlich wunderbar, uns Kinder für den Unterricht zu begeistern. Ganz ohne Drohungen und Zwang. Mit unkonventionellen Methoden lehrte sie uns spielerisch das Schreiben und Lesen. Natürlich kam das Rechnen auch nicht zu kurz.

Ihre fröhliche Art war für uns Kinder ansteckend und immer wieder konnte man helles Kinderlachen aus der Schulstube vernehmen. Sie lehrte uns jedoch auch, die Natur und überhaupt alle Lebewesen zu achten. Ihr war insbesondere wichtig, dass wir untereinander einen respektvollen Umgang pflegten und die schulisch etwas schwächeren Mitschüler unterstützten. Für Weihnachten und fürs Examen studierte sie mit uns Theaterstücke ein, die wir dann für unsere Eltern aufführten.

In der zweiten Primarklasse thematisierte Fräulein Schneider mit uns das Grimm’sche Märchen von Schneewittchen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir uns über die böse Stiefmutter aufregten und eifrig diskutierten, wie wir diese hinterhältige Frau in Schach gehalten hätten. Wir haben diese unsere Gedanken auch schriftlich niedergeschrieben. Glücklicherweise habe ich aus dieser Zeit ein paar Schulhefte aufbewahrt und habe darin den kleinen Aufsatz über die böse Stiefmutter von Schneewittchen gefunden. Vorausschicken möchte ich, dass mich als Kind weder Fernsehen, noch bunte «Schundheftli» belasteten. Ich bin also in einer relativ heilen Welt aufgewachsen. In diesem Aufsatz geht’s jedoch so richtig zur Sache. Beispiele gefällig?

  • Das verfluchte Weib soll man ermorden.
  • Das unverschämte Weib hätte der Jäger erschiessen sollen, und nicht Schneewittchen.
  • Ein Diener sagt: «Ich laufe jetzt dann noch davon, wenn die verdammte Königin noch lange da ist.»

In etwas holpriger Schrift, wir lernten wohl gerade die sog. «verbundene» Schrift, ergeht sich da der kleine Hanspeter in gar wüsten Ausdrücken. Wie gesagt, ich hatte damals keinen entsprechenden Anschauungsunterricht in solchen Dingen. Was mich noch mehr verwundert, ist die Tatsache, dass Fräulein Schneider diese handfesten Worte nicht entsprechend kommentierte. Im Gegenteil, sie schrieb mir unter diesen Aufsatz ein «Sehr gut»!

Dies mag darauf hindeuten, dass Fräulein Schneider nicht nur die sprachliche Korrektheit, sondern auch den Inhalt des Aufsatzes bewertet hat. Vielleicht hat sie erkannt, dass diese Wortwahl meine Leidenschaft und Begeisterung für das Thema widerspiegelte. Oder vielleicht war sie einfach grosszügig und wollte mich ermutigen, weiterhin meine Gedanken auf Papier zu bringen.

Hier der eindeutige Tatbeweis dieses gewaltverherrlichenden Aufsatzes (zum Vergrössern einfach entsprechendes Bild anklicken):

Blatt 1

Blatt 2

Blatt 3

 

 

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