Kurz vor Heiligabend überkam meinen Vater immer eine grosse Unruhe. Der Christbaum musste beschafft werden, und das war für ihn keine leichte Aufgabe.

Natürlich hätte er für einen Fünfliber einen ordentlichen Baum im Gemeindeschopf kaufen können. Nur zweihundert Meter hin, zweihundert Meter zurück nach Hause. Doch das kam für ihn nicht in Frage. Es war für ihn unverständlich, für etwas zu bezahlen, das in der Natur so reichlich vorhanden war. Er war überzeugt, dass es mehr Segen brachte, den Christbaum direkt aus dem Wald zu holen. Die Tatsache, dass Mutter ihm mehrmals Diebstahl vorwarf, konnte ihn nicht überzeugen, denn schliesslich liess der Herrgott die Bäume doch kostenlos wachsen.

In den mittleren 1960er Jahren, als ich bereits dem Christkind entwachsen war, durfte ich erstmals mit ihm auf «Weihnachtsbaum-Einkaufstour» gehen. Es war, soweit ich mich erinnern kann, am 4. Adventssonntag. Es lag viel Schnee, und es war sehr kalt. Eine romantische Vorweihnachtsstimmung lag in der Luft.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit machten wir uns auf den Weg in Richtung Fuchsfarm und dann weiter in seinen «Wold» (Waldstück im Wallibach). Hier inspizierte er mit der Taschenlampe, unterdessen war es schon ziemlich dunkel geworden, seine vor Jahren gepflanzten Tannenbäumchen. Zufrieden stellte er fest, dass kein so «Glünggicheib» ihm ein Tannli gestohlen hatte.

Dann flüsterte er mir geheimnisvoll ins Ohr, dass wir jetzt ein bisschen oberhalb seines Waldes, also auf einem Waldstück, das nicht ihm gehörte, ein Tännchen fällen würden. Er wisse dann schon, welcher Baum. Er sei ihm bereits im Sommer ins Auge gestochen.

Doch plötzlich drückte er mich fest an sich. – «Du, da kommt jemand!»

Ich bestaune den Christbaum aus dem «Wold»

Tatsächlich tauchte ein Mann vor uns auf. «Salü Hans», begrüsste er uns. Es war der Waldbesitzer. «Ja, schau», antwortete mein Vater, «machst du auch deine Runde?» Der Waldbesitzer erwiderte: «Ja, ich hole mir einen Christbaum. Ich habe ihn bereits im Herbst ausgesucht. Ein wunderschöner Baum.»
Mein Vater räusperte sich und sagte: «Da haben wir beide dieselbe Idee gehabt. Ich hole mir auch einen Christbaum. Mal sehen, wer den schönsten nach Hause bringt!»

Dann machten sich beide auf, in ihrem Waldstück ein Bäumchen zu fällen. Mein Vater war überhaupt nicht begeistert. Er jammerte leise vor sich hin und obwohl ihn der Baum reute, wollte er natürlich nicht als Verlierer dastehen.

Später trafen wir uns wieder mit dem Waldbesitzer, dessen Namen mir nicht mehr geläufig ist. Sie verglichen ihre Bäume, und ich durfte auswählen, welcher Baum der schönste war.

Um Vater noch ein bisschen mehr zu ärgern, zeigte ich auf das Bäumchen des Mannes. Natürlich war es genau der Baum, den mein Vater bereits im Sommer für uns ausgewählt hatte. Lachend bedankte er sich bei mir, holte aus seinem Rucksack zwei Gläser und bot meinem Vater ein «Burgermeisterli» an. Dann zogen wir mit unserem Christbaum davon.

Meine Mutter war überglücklich, als sie hörte, dass der Christbaum dieses Mal aus eigenem Anbau stammte. Es war das letzte Mal, dass mein Vater nach einem illegalen Christbaum gelüstete. Von nun an kaufte er das Weihnachtstännli für einen Fünfliber – später dann für etwas mehr – im Gemeindeschopf gegenüber dem Restaurant Au.

Er holte auch nie wieder einen Weihnachtsbaum aus seinem «Wold». Das schöne Tännli reute ihn noch viele Jahre.

 

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