Die Sommerferien kündigen sich an. Die Kinder atmen erleichtert auf. Endlich können sie tun, was ihr Herz begehrt, ohne an lästige Hausaufgaben erinnert zu werden.

Ich erinnere mich gerne an die eigene Sommerferienzeit in der Kindheit zurück. Die ersten beiden Wochen liebte ich. Praktisch alle Nachbarskinder waren noch da, mussten nicht in die von oben verordneten Ferien verreisen. Wir spielten den ganzen Tag und natürlich war auch Zelten angesagt. Jedoch nicht wie heute mit allem Schnickschnack. Wir bauten uns die Zelte noch selbst. Mit Obstharassen, Segel- oder anderem Tuch und vielen Wäscheklammern, sehr zum Leidwesen unserer Mütter. Da konnten wir dann stundenlang in diesen Zelten spielen und oh grosse Wonne: Auch drin übernachten.

In meiner Familie war es nicht üblich, in die Ferien zu verreisen. Zuerst kam die Kirschenernte auf Arten, dann machten wir ein paar Tagesausflüge, vorzugsweise ins Berner Oberland, oder sogar eine zweitägige Wanderung mit Übernachtung in einem Massenlager.

Nach den Schulferien mussten wir meistens einen Aufsatz über unsere Ferienerlebnisse schreiben. Dank meiner blühenden Phantasie schmückte ich diese Tagesausflüge so aus, als wäre ich monatelang auf abenteuerlichen Reisen unterwegs gewesen.

Beim Schreiben dieses Artikels habe ich in meinen Fotoalben gestöbert, um eine passende Foto dazu zu finden. Plötzlich ist mir eine Fotografie in die Hände geraten, die mir eine tiefe Freundschaft mit einem ganz speziellen Menschen in Erinnerung ruft.

Es war eher eine stille Freundschaft. Dieter, ein Nachbarsbub, litt nämlich an einer unheilbaren Krankheit, die ihn daran hinderte, sich als «Bueb» so richtig auszutoben. Was ihn jedoch auszeichnete, war seine wunderbare Art, aktiv zuzuhören.

Er liebte es, wenn ich ihm von meinem «Winnetou» erzählte. Er konnte sich kaum halten vor Lachen, wenn ich das eigentümliche Kichern von «Sam Hawkens» nachahmte und zu seiner grossen Freude durfte er ab und zu auf unserem Holzschwan reiten und sich dabei als «Old Shatterhand» auf «Hatatitla» fühlen.

Weil er sich physisch eben weniger ausdrücken konnte, hatte er ein umso reicheres Innenleben und er liess mich gerne an seinem Bilderreichtum teilhaben.

In den farbigsten Bildern konnte er mir die Prärie im «Wilden Westen» beschreiben, schaudernd vom grauslichen Grizzlybären erzählen, der uns zähnefletschend verfolgte, um dann wiederum begeistert in meine etwas bodenständige Art einzusteigen, indem wir uns genüsslich an der lukullischen Bärentatze des gerade erlegten Grizzly’s weideten.

Doch zurück zu den Sommerferien. Dieter liebte sie, denn dann konnte er ganztägig mit mir zusammen sein.

Doch wenn dann die «Uhrenmacherferien» (so bezeichnete man damals die Fabrikferien im Waldenburgertal) anstanden, wurde er ein bisschen traurig. Er musste dann nämlich mit seiner Familie verreisen. Sie verbrachten, wohl als erste im Dorf, regelmässig ihre Ferien am Mittelmeer.

Doch Dieter wäre viel lieber zuhause geblieben. Das war für ihn Abenteuer genug. Ich seh‘ ihn, wie er sich hinten auf dem Rücksitz des Autos mir zudrehte und mit gequältem Lächeln zum Abschied winkte.

Ich meinerseits hätte natürlich nichts dagegen gehabt, mit Dieter zu tauschen. Im Gegensatz zu seiner Familie war bei uns in den «Uhrenmacherferien» nicht Mittelmeer, sondern – wie eingangs bereits erwähnt – Kirschenernte angesagt.

Dieter ist dann im Alter von zehn Jahren gestorben. Ich habe mich damals ums Abschied nehmen gedrückt, weil mir das langsame Sterben meines Freundes einfach unerträglich gewesen ist. Ich höre es noch heute, wie meine Mutter zu mir sagte:

«Jetzt ist Dieter im Himmel.»

Ich zog mich zurück und schämte mich so, weil ich nicht den Mut aufgebracht hatte, ihm Lebewohl zu sagen.

Und dann kam die tiefe Trauer.

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