Nein, heute wäre diese Geschichte wohl nicht mehr möglich. Aber damals schon.

Wir schreiben das Jahr 1965.

Die Rolling Stones veröffentlichten (I can’t Get No) Satisfaction als Single. Fidel Castro verkündete, dass er die Überreste des Kapitalismus beseitigen werde. Michail Scholochow erhielt den Nobelpreis für Literatur.

Und ich langweilte mich in der Schule beim damals fürchterlichsten Lehrer der westlichen Hemisphäre und kompensierte diese Langeweile gerne mit allerlei pfiffigen Aktionen.

Es war im Wonnemonat Mai als Vater am Mittagstisch erzählte, dass er gehört habe, dass man bei Gerster’s auf der Hühnerfarm junge «Güggeli» (Hähne) gratis abholen könne. Wir Oberdörfer hatten damals eine richtige Hühnerfarm (ich korrigier‘ mich: Wir hatten damals zwei Hühnerfarmen!). Die armen Viecher wurden nicht in Batterien gehalten. Sie hatten noch tüchtig Auslauf. Wir Oberdörfer waren halt nicht so ökonomisch-modern.

«Das wäre doch etwas für uns. Dann hätten wir regelmässig einen feinen Sonntagsbraten», meinte Vater, genüsslich die Lippen netzend. Doch Mutter war gar nicht begeistert. Sie verabscheute alles, was irgendwie nach Tieren roch.

Ganz im Gegensatz zu mir. Aufmerksam verfolgte ich diesen Hinweis auf «Gratis-Güggeli» und mir fiel sogleich eine glänzende Geschäftsidee dazu ein:

Ich mach‘ mir eine Hühnerfarm.

Ich wusste damals noch nicht, dass dazu sowohl Hühner (Weibchen) wie mindestens ein Hahn vonnöten gewesen wären. Wie sollte ich auch. Aufklärung war damals noch nicht en vogue.

Nachmittags hatten wir schulfrei und ich konnte es kaum erwarten, diese Neuigkeit meinem Schulfreund Christian zu erzählen. Als Compagnon meiner Hühnerfarm schien er mir mehr als geeignet. Immerhin war sein Vater Tierarzt.

Ich weihte ihn also in meinen Plan ein und er war sogleich Feuer und Flamme. Wir machten uns unverzüglich mit seinem Leiterwagen auf zur Hühnerfarm.

Wir hatten Glück. Herr Gerster, der stolze Besitzer der Hühnerfarm, höckelte gerade auf der Bank vor seinem stattlichen Haus. Wir erzählten ihm von unserer Idee einer Hühnerfarm. Ob er uns wohl dazu ein paar «Güggeli» spendieren könne?

Er schaute uns lange an und dann lachte er lauthals.

«Natürlich könnt‘ ihr ein paar «Güggeli» haben. Aber passt gut auf sie auf. Und sagt mir dann, wenn’s Nachwuchs gegeben hat.» Und wieder musste er schallend lachen.

Er holte einen leeren Futtersack, machte mit dem Messer ein paar Löcher hinein. Dann stapften wir mit ihm in die Hühnerhalle. Ei, war das ein Gegacker. In einem abgeschirmten Teil der Halle waren die Junghennen und -hähne. Mit geübtem Auge schied er für uns fünf «Güggeli» aus und packte sie mit sicherem Griff in den Futtersack.

Glücklich zogen wir mit dem Leiterwägeli und den fünf «Güggeli» von dannen.

Doch plötzlich kam uns in den Sinn, dass wir ja eine Unterkunft für unsere «Güggeli» brauchten. Das hatten wir nicht bedacht. Also luden wir sie vorerst im Keller von Christian’s Eltern ab und befreiten sie aus dem Futtersack.

Doch jetzt ging so richtig die Post ab. Die armen «Güggeli» waren ziemlich durcheinander und rannten wie wild umher.

Dummerweise entwischten sie uns durch die offene Türe, die nach oben ins Haus führte. Wir beide rannten hinterher und wollten sie einfangen. Das jedoch war gar nicht so einfach. Immer wieder entwischten sie uns und schlussendlich verkrochen sie sich in der guten Stube unter dem Sofa.

Keine Chance, sie wieder einzufangen.

Und das Unglück nahm seinen weiteren Lauf. Die Haustüre ging auf und schwere Schritte näherten sich sich der guten Stube. Es war der Vater von Christian. Eine imposante Gestalt mit einer nicht minder imposanten Stimme.

«Was ist denn hier los?» – «Nichts. Wir spielen einfach ein bisschen.»

Doch plötzlich legten die fünf vermaledeiten «Güggel» los. Ihr Krähen tönte zwar noch nicht so ausgereift, aber dennoch reichte es aus, um Christian’s Vater hellhörig zu machen.

«Wer zum (unheiliges Fluchwort) hat diese Viecher hierher bestellt?» – «Rückt sofort raus mit der Sprache!»

Mit zittriger Stimme erzählten wir ihm von unserer Hühnerfarm. Und dass diese Güggeli denn nichts gekostet hätten.

Trotz seines Ärgers musste er dennoch ein bisschen schmunzeln.

«Dann stecken wir vorerst diese Hähne wieder zurück in den Futtersack und dann besprechen wir das weitere Vorgehen. Hier könnt‘ ihr unter keinen Umständen eine Hühnerfarm betreiben.»

Mit geübtem Griff, immerhin war er ja Tierarzt, holte er die «Güggel» unter dem Sofa hervor und steckte sie zurück in den Futtersack.

In der Zwischenzeit hatten auch Christian und ich eingesehen, dass diese Hühnerfarm wohl doch keine gute Idee gewesen war. Wir hätten alles darum gegeben, die «Güggel» wieder loszuwerden.

Doch die «Güggel» wieder zurückbringen? Nein, das wäre für uns zu blamabel gewesen.

Zum Glück hatten damals auch Erwachsene gute Ideen. Christian’s Vater holte nämlich sogleich den Nachbarn ins Haus. Es war der «Enten-Hans». Wir nannten ihn so, weil er viele Jahre Enten gehalten hatte. Jetzt aber war das schnuckelige Entenhaus verwaist.

«Enten-Hans» beschaute sich genüsslich die Bescherung an und schlug sogleich in den Handel ein. Die «Güggel» verfrachtete er nullkommanix ins Entenhaus.

Nach ein paar Wochen hat er dann die wohlgemästeten «Güggel» vom Leben in den Tod gebracht und uns zum «Güggeli-Essen» eingeladen. Hach, war das ein lukullisches Festessen!

Glaubt mir, liebe Blogleser/innen, so ein Abenteuer und so ein festliches Mahl hätten wir nie erlebt, wären wir – wie heute üblich – transparent aufgeklärte Jungs gewesen.

 

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