Natürlich Gewachsenes erlischt, wird höchstens ersetzt durch künstlich Gefertigtes. Ein Beispiel hierfür ist der Stammtisch. Früher war er ein Ort der Tradition, der Geschichten und des Miteinanders. Heutzutage findet man ihn kaum noch, sicherlich auch bedingt durch das Beizensterben. Als blutleerer Ersatz hat sich die digitale Welt angeboten: Social Media, Zoom und andere digitale Plattformen.
Mit Wehmut denke ich an die Zeit zurück, wo sich die währschaften Oberdörfer Männer noch regelmässig zum Umtrunk an den Stammtischen eingetroffen haben. Es gab sie ja noch, die urchigen Beizen zu Oberdorf.
Für mich, damals im zarten Jünglingsalter von 19 Jahren, war der späte Samstagnachmittag reserviert für die Stammtischrunde auf der Au. Dort traf sich regelmässig eine illustre Männerrunde aus Politik und Gewerbe, und selbstverständlich gesellten sich auch einfache «Büezer» zur Stammtischrunde.
Das Stammtisch-Prozedere gestaltete sich immer in etwa gleich:
Ich setze mich an den Stammtisch, bestelle ein kühles Ziegelhof beim «Fräulein» und setze zum andächtigen Schluck an. Meine Welt ist in Ordnung. Reihum werde ich willkommen geheissen, reihum prostet man mir zu.
Ganz beiläufig klinke ich mich ein in die typische Stammtischmelodie aus Politik, Dorfneuigkeiten, Witzen und Neckereien. Diese Melodie ist jedoch nicht so dumpf, wie es das Klischee will. Die dummen Sprüche sind genau so gemeint: als dumme Sprüche. Sie kitten die Männerrunde wie die reihum spendierten Runden.
Viele Geschichten, viele Legenden und allerlei Ergötzliches ranken sich um diesen meist runden Tisch, an dem Meinungen ausgetauscht und gewertet werden. Ein Tisch mit Wortführern, Widerrednern und schweigenden Beisitzern.
Ein Stammtisch ist sozusagen eine Miniaturausgabe einer Konsensdemokratie, wo nie so heftig gestritten wird, dass man nicht am nächsten Abend wieder zusammen ein Bier trinken könnte. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel.
«Der Stammtisch kann als politisch integrierend und in dem Sinne als konkordanzfördernd aufgefasst werden», schreibt die Historikerin Nicole Schwager in ihrem Aufsatz «Stammtisch und Bundesstaat». In diesem Aufsatz kann sie auch belegen, dass Stammtische in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, als sich das noch junge Staatswesen erst zusammenraufen musste, politisch äusserst relevant gewesen sind.
Vielleicht müssten wir uns wieder auf die integrierende Kraft des Stammtisches besinnen. Der heutigen Schweizer Politik würde diese «radikale» (von den Wurzeln her) Stammtisch-Kur nur guttun.
Da kann ich Gutes vermelden aus meinem Umfeld: Stammtische leben sogar im städtischen Umfeld wieder auf, am Land sind sie sowieso ungebrochen ein Thema.
Ich weiß von Stammtischen, die sich ganz unterschiedlich zusammensetzen: Musiker*innen, die nach ihren Auftritten und Proben noch gesellig weiterfeiern; Jägerstammtisch, Bauernstammtisch, Strickrunden, Grätzlrunden (nicht nur in Wien noch immer Thema, auch in anderen öst. Städten), Kolleg*innenstammtische und auch der sogenannte „Frühschoppen“ (ein Stammtisch am Vormittag) ist gut verbreitet. Bestimmt gibt’s auch noch anderen Themen gewidmete Stammtische.
Egal, wer zusammensitzt, Politik spielt tatsächlich immer irgendwie eine Rolle, vermutlich sogar bei den Stammtischen von jenen, die freudig ihre Handarbeiten vergleichen und anpreisen.
Liebe Grüße aus dem Nachbarlande, C Stern
Das hatte ich natürlich nicht auf dem Radar. Hier auf dem Lande sind die Stammtische, auch aufgrund des „Beizensterbens“, praktisch nicht mehr vorhanden.
…ich war jetzt als Mädchen/Frau nie am Stammtisch. Einzig nach dem Sport sind wir auch zusammen gesessen und da wurde natürlich hauptsächlich über die sportlichen Leistungen geredet und irgendwann auch über andere Themen.
Interessante Geschichte über den Stammtisch!
So habe ich es auch in Erinnerung, dass Frauen früher selten bis gar nie am Stammtisch gesessen sind. Heute scheinbar schon. Vor allem in den grösseren Städten.