Wo ist Cäcilia nur geblieben? Auf meinem täglichen Spaziergang durch den nahen Wald bin ich ihr seit Tagen nicht mehr begegnet. Ist sie etwa krank geworden? Oder noch schlimmer?

Ich bin mir unschlüssig. Soll ich im Altersheim nachfragen, wie es ihr geht? Doch im Moment scheinen die Türen wieder zuzugehen. Ein zweiter Lockdown kündigt sich an. Müssen die alten Menschen wiederum eingesperrt ihren kümmerlichen Alltag verbringen? Ohne Kontakt zu ihren Liebsten?

Tief versunken in meine eigene Gedankenwelt mache ich mich auf meinen Rundgang. Es ist neblig und nieselt leicht. Die Nebeldecke drückt auf mein Gemüt. Ich denke an Cäcilia und hoffe so sehr, dass ich sie treffen kann. Ich komme bei «unserem» Bänklein vorbei. Es ist nicht besetzt. Ich setze mich hin und sehne mich nach Cäcilia und ihren tröstenden Worten. Doch vergeblich. Traurig steh‘ ich auf und gehe weiter.

Doch plötzlich nehme ich in der Ferne ganz schwach eine menschliche Silhouette  wahr. Ganz langsam kommt mir diese Person näher.

Ja, es ist Cäcilia. Behutsam kommt sie mir entgegen. Ich freue mich so. Mein Gemüt hellt sich auf. Wie von Zauberhand verschwinden meine dunklen Gedanken.

«Hallo Hanspeter,» begrüsst sie mich.
«Hallo Cäcilia, so schön, Dich wieder mal zu treffen!» erwidere ich ihren Gruss.

Sie freut sich auch. Mit einem feinen Lächeln gibt sie mir zu verstehen, dass sie gerne ein wenig mit mir plaudern möchte.

Natürlich auf «unserem» Bänkchen.

Wir nehmen Platz und halten erstmals unsere obligate Schweigeminute ab.

Dann bin ich doch zu neugierig, sie zu fragen, weshalb ich sie seit Tagen nicht mehr getroffen habe.

Sie sei ein wenig grippig gewesen. Und natürlich meinten die Pflegepersonen, dass sie sich mit dem weltweit grassierenden Virus angesteckt habe. Doch habe sie immer wieder versichert, dass das nur eine leichte Erkältung sei. Also überhaupt nichts Schlimmes. Doch sie habe einen Test machen müssen, der negativ gewesen sei. Ansonsten hätte dem Altersheim Quarantäne gedroht.

«Da bist Du sicherlich erleichtert gewesen, dass Du dieses Virus nicht gehabt hast.»

«Nein, für mich ist es immer klar gewesen, dass ich nur eine leichte Erkältung habe», entgegnet sie mir.

«Was hat Dich denn so sicher gemacht?» frag‘ ich sie.

Sie schweigt einen Augenblick, schaut mich liebevoll an und sagt:

«Das ist mein Vertrauen ins Leben. Du kannst auch «Gott» dazu sagen. Ich ziehe jedoch «Leben» vor. Weisst Du Hanspeter, ich habe dieses Vertrauen ins Leben nicht immer gehabt. Doch ein Erlebnis, das möchte ich Dir jedoch ein anderes Mal erzählen, hat mir für immer dieses Vertrauen geschenkt. Dank dieses Erlebnisses wusste ich plötzlich, nein, ich fühlte es tief in mir drinnen, dass ohne das Göttliche in mir, kein Leben möglich ist. Gott, und ich verwende jetzt dieses Wort, es könnte jedoch auch »das Gute» heissen, ganz bewusst. Seither habe ich den tiefen Sinn des Bibelzitates verstanden, dass es «Nichts ausser Gott gibt».

«Das versteh‘ ich nicht so ganz.»

»Vielleicht hilft Dir diese Krücke Deinem Verständnis etwas nach: Es gibt nichts ausserhalb von Gott, denn das Göttliche ist in Dir; es ist Dein ewiges Leben.»

Ich fühl‘ mich unbehaglich. Zeit meines Lebens hadere ich mit der Gottbegrifflichkeit. Ist Cäcilia jetzt ins Frömmlerische abgerückt?

Cäcilia lacht plötzlich lauthals heraus.

«Du meinst jetzt sicher, dass ich einer christlichen Sekte beigetreten bin. Nicht wahr?»

Ich fühl‘ mich ertappt. Wie kann sie nur meine Gedanken lesen?

«Keine Angst Hanspeter, ich bin und bleibe ein Freigeist. Ideologien sind mir fremd. Du kannst sie auch Dogmen nennen, welche von Priestern, Pfarrherren und dergleichen fein gestrickt worden sind, um uns Schäfchen zu kontrollieren. Heute übernehmen das jedoch die Politik und die Medien. Sie schüren Angst und Angst macht uns gefügig für allerlei Unsinn gegen unser heiliges Leben.»

So habe ich Cäcilia noch nie reden gehört. Ich bin etwas verwirrt. Das Gedankenkarussel dreht sich.

Cäcilia legt mir liebevoll ihren rechten Arm um meine Schulter und sogleich beruhigt sich mein Inneres.

«Ich weiss Hanspeter, das ist vielleicht etwas gar viel für Dich gewesen. Aber nimm‘ es einfach mit Dir. Du wirst das grosse Geheimnis auch entdecken, nein, in Dir erleben. Vertrau‘ Dir.»

«Vertrauen, liebe Cäcilia, das ist nicht so meine Kernkompetenz. Es fällt mir einfach schwer zu vertrauen. Zu schmerzliche Erlebnisse hindern mich daran. Leider.»

«Wieder Vertrauen zu fassen, ist ganz einfach, jedoch nicht so leicht. Dazu gibt’s sogar ein Patentrezept: Sei mutig, und glaub‘ mir, es braucht viel Mut dazu, lass‘ Dich einfach in Deine Mitte, in Dein Herz fallen.»

Ich schau‘ sie entgeistert an.

«Und das kannst du wirklich?»

Sie lächelt versonnen.

«Ja, natürlich, mehr noch: Ich denke nicht mit dem Kopf. Mein Denken ist auch ins Herz gefallen.»

Sie lacht wieder. Es schüttelt sie so richtig durch.

«Humor und viel lachen, auch das ist eine Herzensangelegenheit. Und nicht zu vergessen: Viel lieben.»

Sie schaut mich schelmisch an und ich weiss, jetzt kommt wieder eine ihrer träfen Schlusspointe:

«Vertraue der Liebe und Du wirst immer ein Liebender und guter Liebhaber sein!»

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