Ich habe Cäcilia wieder getroffen. An einem heissen, sonnigen Tag. Ich setze mich zu ihr. Unaufgefordert. Sie freut sich. Begrüsst mich mit meinem Vornamen. Ich sie auch.

Ich frage sie, ob ihr die Quarantäne zugesetzt habe. Sie antwortet mit einem verschmitzten Lächeln auf ihren Lippen:

– «Nein, gar nicht. So viel hat sich für mich nicht geändert. Ausser den täglichen Spaziergängen. Das habe ich schon vermisst. Aber da ich ja selten Besuch kriege, habe ich diese Zeit gut überstanden.»

– «Ach ja, Du leidest darunter, dass Du so wenig Austausch hast, nicht wahr?»

– «Schon. Hin und wieder besuchen mich meine Kinder, meine Schwiegertochter. Doch der Austausch ist nur oberflächlich. Wir reden darüber, was im Dorf so läuft. Der übliche Dorfklatsch halt. Ich muss gestehen, dass ich mich noch nie getraut habe, ihnen zu sagen, dass mir dieser Tratsch auf die Nerven geht. Doch wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, habe ich wohl ein bisschen Angst davor, dass sie mich dann  überhaupt nicht mehr besuchen. Siehst Du Hanspeter, auch ich bin nicht frei von solchen Ängsten.»

– «Das kann ich Dir nachfühlen. In meinem Leben habe ich schon so viele Male «Ja» gesagt, obwohl ich «Nein» meinte. Dann hat sich alles in mir aufgestaut, bis ich nicht mehr konnte.»

– «Und dann? Wie bist Du mit dieser Situation umgegangen?»

– «Ich habe mit einem Donnerschlag alles losgelassen. Das hat mir natürlich nicht eitel Sonnenschein beschert. Aber es brachte mir immerhin etwas Erleichterung. Bis zum nächsten Mal…»

Cäcilia schliesst die Augen. Ich weiss nicht, was jetzt in ihr vorgeht. Sie atmet tief durch, öffnet die Augen und sieht mich durchdringend an. Ich warte auf ihre weisen Worte. Doch nichts geschieht. Sie sitzt einfach still neben mir. Plötzlich tastet sie nach meiner Hand. Umschliesst sie fest und fängt an zu schluchzen. Es schüttelt sie so richtig durch. Ich bin verwirrt. Was habe ich nur in ihr ausgelöst?

Sie fängt sich wieder, holt ein Taschentuch hervor und tupft sich die Tränen ab.

Sie schaut mich mit einem tiefen Blick an. Räuspert sich kurz:

– «Du hast mich jetzt mit Deiner Geschichte an einem wunden Punkt erwischt. Weisst Du, an dieser Krankheit leide ich immer noch, trotz meiner 95 Jahre.»

Ich habe gar nicht gewusst, dass sie bereits so alt ist. Ich hätte sie auf maximal 80 Jahre geschätzt.

– «Ich glaube, ich habe Dir bereits erzählt, dass ich keine schöne Ehe gehabt habe.»

– «Ja, das hast Du mir erzählt. Wenn ich mich richtig erinnere, hiess Dein Ehemann Paul-Peter. Oder nicht?»

– «Genau. Der Paul-Peter. Ich verliebte mich in seine galante Art. Er war ein richtiger Charmeur. Und ich war noch so jung. Dann wurde ich schwanger und wir heirateten. Das war damals so üblich. Ich freute mich auf den gemeinsamen Haushalt, auf das gemeinsame Bett. Doch diese Freude währte nicht lange. Paul-Peter zeigte mir plötzlich sein anderes Gesicht. Ich möchte jetzt nicht näher darauf eingehen. Nur so viel: Auch bei mir änderte sich vieles. Ich konnte ihn plötzlich nicht mehr riechen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das Schlimmste für mich war der eheliche Sex. Ich bin dabei immer eingefroren. Ich schaute dann jahrelang, dass ich nicht gleichzeitig mit ihm ins Bett musste. Oder dann stellte ich mich schlafend. So konnte ich mich vor seinen Annäherungen schützen.»

– «Das muss ja schrecklich für Dich gewesen sein. Wie hast Du das nur ausgehalten? Hast Du nie an eine Scheidung gedacht?»

– «Weisst Du, ich bin in einer Generation aufgewachsen, wo eine Scheidung, ausgelöst durch eine Frau, nicht akzeptiert worden wäre. Dann habe ich ja auch Kinder gehabt. Wie wäre es mit uns weitergegangen? Auch finanziell. So habe ich halt ausgeharrt. Jahr um Jahr. Und jetzt lässt mich das Bedauern, mein Leben nicht gelebt zu haben, nicht mehr los.»

Sie seufzt und ich merke, wie sie nochmals diesen Schmerz durchlebt. Ich halte ihr die Hand. Ihr Bedauern berührt mich tief. So sitzen wir sicher zehn Minuten schweigend da.

Plötzlich habe ich das Gefühl, dass bei ihr etwas Heilendes geschehen ist. Sie schaut mich mit einem liebevollen Blick an.

– «Hanspeter, da hat’s jetzt in mir einen richtigen Rutsch gegeben. Es hat sich ähnlich angefühlt, wie damals auf der Schiffschaukel früher auf der Chilbi im Dorf, wenn wir mit der Schaukel wieder heruntergesaust sind. Ich fühle mich jetzt so befreit. Ich danke Dir.»

Sie haucht mir schüchtern einen Kuss auf meine linke Wange. Ich bin gerührt.

– «Ich hab‘ ja gar nichts gemacht.»

– «Doch, Du hast mich mit Deiner liebevollen Anteilnahme aus diesem Schmerz herausgeführt.»

Jetzt bin ich verwirrt und frage mich in Gedanken, ob es wirklich so einfach ist, einem Menschen zu helfen, seinen inneren Schmerz zu heilen. Einfach mit Aufmerksamkeit, Anteilnahme.

Cäcilia blinzelt mich schelmisch an.

– «Was meinst Du, gibt’s auch noch für mich eine grosse Liebe? Ich habe immer noch Sehnsucht nach meinem Seelenpartner. Aber ich glaube, dazu bin einfach zu alt.»

– «Cäcilia, nein, niemand ist zu alt, um wahrhaftig zu lieben. Seinen Seelenpartner, seine Zwillingsseele, zu finden.»

Das ist mir jetzt einfach so rausgerutscht. Ohne zu überlegen.

Cäcilia strahlt mich an.

– «Damit hast Du mir ein Riesengeschenk bereitet. Ich hab‘ mich nämlich immer ein bisschen geschämt, dass ich so Sehnsucht nach einem Seelenpartner gehabt habe und immer noch habe. Aber wie finde ich ihn denn meine Zwillingsseele?»

– «Ich würde mich einfach täglich mit ihm verbinden. Denn wenn Du diese Sehnsucht hast, kannst Du Dich darauf verlassen, dass es ihn auch gibt. Hier und jetzt. Rede mit ihm. Erzähle ihm wie’s Dir gerade geht. Lass‘ ihn teilhaben an Deinem Leben. Flüstere ihm immer wieder zu: ICH LIEBE DICH.»

Was geschieht nur mit mir? Weshalb weiss‘ ich das?

Hat sich vielleicht auch in mir drin etwas gelöst, eine bisher verschlossene Türe geöffnet?

Ich fühl‘ mich ganz leicht und beschwingt. Ich lächle Cäcilia an. Sie erwidert mein Lächeln.

– «Hanspeter, wir beide sind schon ein gutes Team. Ich freue mich so auf ein nächstes Wiedersehen!»

– «Glaub‘ mir, Cäcilia, ich mich auch.»

Sie schaut mir nochmals tief in die Augen.

– «Hanspeter, jetzt gerade ist in mir ein Satz aufgetaucht:

MEIN LEBEN GEHÖRT MIR!»

Sie lächelt mich glückselig an.

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