Ich sitze vor dem Computer. Ängstlich schaue ich mein Bankkonto an und mein Magen krampft sich zusammen. Das Konto steht im Minus und ich müsste doch dringendst Zahlungen machen.

Ich versteh‘ es einfach nicht, weshalb ich immer wieder blank bin. Im Moment erwarte ich keine Einzahlungen meiner Kundschaft. Ich bin zwar fleissig an ein paar Aufträgen. Jedoch kann ich wohl frühestens in einem Monat Rechnung stellen.

Mein üblicher innerer Dialog spielt sich ab: «Du hättest Dich halt nie selbständig machen sollen.» Diese Stimme kommt mir verdächtig bekannt vor. In meinem Elternhaus herrschte nämlich die Meinung vor, dass nur ein sicherer Arbeitsplatz das Leben lebenswert mache.

Ich stehe auf, gehe unruhig im Arbeitszimmer auf und ab. Greife zu einer Zigarette und gönn‘ mir dadurch erstmals eine kleine Verschnaufpause.

Plötzlich drängt es mich zu einem kleinen Spaziergang. Ich ziehe mir eine Jacke an. Es ist ziemlich kühl und windig draussen. Ich nehme mir vor, zu meinem Plätzchen an dem Fluss zu gehen. Da kann ich immer gut entspannen.

Ich möchte gerade in den Wald abbiegen. Doch da ruft eine mir wohlbekannte Stimme: «Hallo Hanspeter! Bist Du auch schon unterwegs?» Es ist natürlich Cäcilia. Seltsam, so früh am Morgen bin ich ihr noch nie begegnet.

«Hallo Cäcilia, was machst denn Du so früh am Morgen?»

Cäcilia kommt mir freudestrahlend entgegen. Auch sie trägt eine warme Jacke. Ihr Gesicht ist vom Wind leicht gerötet. Vermutlich ist sie schon eine geraume Weile unterwegs. Ich freue mich über die Begegnung.

«Was meinst Du Cäcilia. Gehen wir zu unserem Bänkchen?»
«Ja, gerne», antwortet sie.

Wir schlendern gemütlich zu unserem Bänkchen. Setzen uns beide gleichzeitig hin und schweigen uns vorerst einmal gebührend an.

Cäcilia räuspert sich: «Ich glaube, das ist das erste Mal, seit ich im Altersheim wohne, dass ich so früh unterwegs bin. Doch irgendetwas drängte mich zu diesem frühen Spaziergang.»

«Vielleicht habe ich Dich ja gerufen», meine ich lächelnd. Cäcilia schaut mich prüfend an, nickt kurz mit ihrem Kopf.
«Da bin ich mir sogar sicher. Wie geht’s Dir denn Hanspeter? Du bist nicht so bei Dir. Stimmt’s?»

Jetzt hat sie mich wieder einmal erwischt. Cäcilia weiss haargenau, wenn es mir nicht gut geht.

«Ja, Cäcilia, es stimmt. Es geht mir gerade nicht so gut. Ich habe wieder einmal Finanzstress. Ich kenne dieses Sch…Gefühl seit Jahren. Immer die gleiche Schleife. Nein, Endlosschleife.“

„Stell‘ Dir vor Hanspeter, ich kenne dieses Gefühl auch.»

Nun bin ich aber gespannt, was mir Cäcilia da zu erzählen hat. Ich nicke ihr aufmunternd zu und sie beginnt sogleich zu erzählen.

«Weisst Du, ich musste schon als kleines Mädchen viel arbeiten. Das Geld war immer knapp in meiner Familie. Später, als ich verheiratet war, das gleiche Muster. Ich musste mitverdienen, weil mein Ehemann nur einen kleinen Lohn heimbrachte. Ich habe in einer Uhrenfabrik gearbeitet. Ich war in der Abschlusskontrolle eingeteilt. Mein damaliger Chef wollte es so, weil ich scheinbar sehr sorgfältig und genau arbeitete. Die Arbeit machte mir überhaupt keinen Spass. Am Schlimmsten war der Sonntagabend. Mir graute bereits vor dem kommenden Montag. Früh aufstehen, denn die Uhrenfabrik war nicht gleich um die Ecke. Vom Frühjahr bis zum Spätherbst fuhr ich mit meinem Fahrrad zur Arbeit. Über den Winter hindurch wurden wir von einem alten, klapprigen Bus abgeholt. Glaub‘ mir Hanspeter, für mich war es buchstäblich die Hölle gewesen. Doch mir blieb halt nichts anderes übrig. Trotz meines Zusatzverdienstes reichte das Geld nicht aus, um all‘ den Verpflichtungen nachzukommen. Manchmal schaute der Betreibungsbeamte (Gerichtsvollzieher) bei uns vorbei. Wie schämte ich mich da. Wie machte ich mir Vorwürfe. Er war ein richtig böser Mensch, dem es gefiel, uns kleine Leute zu schikanieren. Ich fühlte mich ihm hilflos ausgeliefert. Doch irgendwie schaffte ich es immer wieder, die Schulden zu begleichen. Das wurmte ihn, denn er hätte mir noch so gerne eine Lohnpfändung reingedrückt. Doch davor hatte ich natürlich Angst, denn dann wäre mir wohl gekündigt worden. Du siehst, ich habe viele Jahre unter diesem Geldmangel gelitten. Paul-Peter kümmerte das wenig. Die ganze Last ist auf meinen Schultern gelegen. Und die Kinder wurden in der Schule auch gehänselt. Heute würde man das wohl „Mobbing“ nennen. Sie riefen ihnen „Armenhäusler“ und noch viel Schlimmeres nach. Der Lehrer ist nie eingeschritten. Im Gegenteil. Er drangsalierte die Schüler und Schülerinnen aus den armen Schichten nur zu gerne. So war das halt damals.»

Ihre Augen starren ins Leere. Ich spüre, wie sie diese erlittenen Erniedrigungen nochmals durchlebt..

«Cäcilia, wie lange hast Du denn darunter gelitten»? frage ich sie.

«Lange, lange habe ich unter diesem finanziellen Mangel gelitten. Habe mich geschämt. Habe immer wieder versucht, die finanziellen Nöte vor anderen zu verstecken. Eines Tages, ich wusste einfach nicht mehr weiter, bin ich an den nahen Fluss marschiert. Er trug damals viel Wasser. Ich spielte mit dem Gedanken, mich in den Fluss zu werfen. Einfach nicht mehr leiden zu müssen.»

Cäcilia steht plötzlich auf. Sie schaut mich durchdringend an und legt mir die Hände auf meine Schultern. Sie räuspert sich und fährt fort:

«Was ich Dir jetzt erzähle, wirst Du wohl kaum glauben können. Aber es ist mir tatsächlich so passiert. Ich stehe also am Fluss und spüre, dass mich etwas zurückhält. Wut steigt in mir auf. Ich rede, nein, schreie zu Gott, mache ihm Vorwürfe wegen meines schweren Lebens. Frage ihn nach seiner so grossartigen Allmacht, die ich nirgendwo finden kann. Ich weine und die Tränen rinnen an mir nur so herunter. Es hat mich so richtig durchgeschüttelt. Dann Hanspeter, hör‘ mir jetzt gut zu, habe ich so etwas wie eine Stimme in mir vernommen. Nein, es ist mehr ein inneres Verstehen gewesen. Ganz seltsam. Auf einen Schlag ist mir klar geworden, weshalb ich so unter dem Geldmangel leiden muss.»

«Und, was ist der Grund gewesen»? unterbreche ich Cäcilia.

«Hanspeter, ich habe damals in mir erfahren dürfen, wie ich einer falschen Tradition aufgesessen bin, die besagt, dass das Leben und v.a. die Arbeit mit viel Mühsal verbunden ist. Dass materielle Not gottgefällig ist. Ja, mein Lieber, dieses kirchliche Dogma steckt auch heute noch tief in uns Menschen drin und diese unumstössliche Meinung bewirkt etwas Ungeheuerliches für uns Menschen: Wir fokussieren uns aufs Geldverdienen, was jedoch immer mit einem Mangeldenken einhergeht. Nein, mehr noch: Mangel erzeugt.»

«Verstehe ich jetzt nicht so ganz. Geld verdienen ist doch eine Notwendigkeit?»

«Nein, Geld verdienen ist keine Notwendigkeit. Etwas erschaffen ist eine Notwendigkeit. Für den Schaffenden gibt es keine Armut. Wenn Du Dich aber lediglich aufs Geld verdienen einstellst, dann bist Du wie in einem Kaninchenbau gefangen. Oder in einem Tunnel. Du siehst weder Sonnenschein noch Sternenfunkeln. Du sitzt einfach im Dunkeln.»

Sie lacht schallend. Es amüsiert sie, dass sie soeben einen Reim gemacht hat. Ich muss auch lächeln.

«Ja, Cäcilia, da hast Du wohl nicht ganz unrecht mit dem Bild eines Kaninchenbaus oder Tunnels. Das leuchtet mir ein. Wie komm‘ ich jedoch aus diesem Kaninchenbau raus?»

«Indem Du Dich einer Gabe, welche jeder Mensch besitzt, bedienst. Es ist die Phantasie, das Vorstellungsvermögen. Über den eigenen Horizont hinausschauen können. Mir ist damals bewusst geworden, dass ich mich stets als Opfer einer sinnlosen Arbeit gefühlt habe. Viel Schweiss und Mühe, wenig Lohn. Ja, glaubst Du denn, das mit einer solchen Einstellung etwas Fruchtbares entstehen kann?»

«Nein, glaub‘ ich nicht. Aber wie hast Du denn die Kurve gekriegt?»

«Ich habe meiner Arbeit Sinn verleiht. Mir wurde klar, dass ich mit meiner Arbeit mithelfe, dass nur gut funktionierende Uhren unsere Fabrik verlassen. Dass dank meiner exakten Abschlusskontrolle keine schlechte Uhr verkauft wird. Diese neue Einstellung zu meiner Arbeit hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich mich vom Mangeldenken befreien konnte.»

Dankbar schaue ich Cäcilia an. Sie hat mir wieder einmal mit  wenigen Worten für mich Wesentliches mitgeteilt.

 

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