Ich sehe sie manchmal bei Sonnenschein auf dem Bänkchen sitzen. Den Rollator fein säuberlich parkiert. Die Augen wach. Ein Bild der Zufriedenheit.

Ich grüsse sie freundlich. Sie erwidert den Gruss mit einem Lächeln. Mehr nicht. Wir haben noch keine weiteren Worte ausgetauscht.

Doch eines sonnigen Nachmittags, ich musste mal wieder Zigaretten holen, sprach sie mich unvermittelt an: «Möchten Sie sich nicht zu mir setzen?»

Ich räusperte mich etwas verlegen und setzte mich wortlos zu ihr aufs Bänkchen. Sie schaute mich mit ihren wachen Augen aufmerksam an. Dann meinte sie mit einem feinen Lächeln:

«Jetzt begegnen wir uns schon seit Wochen. Ich glaube, es ist Zeit, uns näher kennenzulernen. Ich bin Cäcilia. Und wer bist du?»

«Ich bin Hanspeter.»

«Aha, ein schöner Namen. Zwei Männer in einem.»

«Wie meinst Du das?»

«Genau so, wie ich es gesagt habe. Zwei verschiedene Vornamen in einem. Welchen magst Du mehr?»

«Das weiss ich nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht.»

«Spielt auch keine Rolle. Weisst Du, ich war verheiratet, bin aber schon lange verwitwet. Mein Mann hatte auch einen Doppelnamen. Paul-Peter hiess er. Ich verliebte mich in den Peter und musste mich viele Jahre mit dem Paul herumschlagen. Wir hatten keine schöne Zeit miteinander. Erst als Paul-Peter krank geworden ist, zeigte sich hin und wieder der Peter. Doch er hatte so viele Jahre den Paul gelebt, dass ihm der Peter fremd geworden ist.»

«Das find‘ ich jetzt äusserst interessant», erwiderte ich.

«Ja, die Doppelnamenträger, heute sind sie jedoch rar geworden, sind spezielle Menschen. Vielmals innerlich zerrissen. Wissen selten, wer sie wirklich sind. Schau‘ mal: Johannes (Hans) ist ein grosser Prophet gewesen. Er gilt als Wegbereiter Jesu oder des Lichts. Der Name Petrus (Peter) bedeutet «Fels». Auf ihn ist also Verlass. Er ist wie ein Fels in der Brandung. Unerschütterlich im Glauben.»

«Interessant. So habe ich es noch nie gesehen. Gut, ich bin ja nicht gerade ein bibelfester Kirchenchrist.»

«Das spielt keine Rolle. Weisst Du, die Bedeutung von Namen ist nicht religionsabhängig. Deine beiden Namen sind halt christlichen Ursprungs. Deren Symbolik jedoch weltumfassend. Auch ich habe mir keinen einfachen Namen ausgesucht: Cäcilia – die Blinde, die Verblendete. Tatsächlich bin ich vielen Illusionen im Leben aufgesessen. Habe gerne den anderen Teil des Ganzen ausgeblendet. Doch Cäcilia hat auch eine Kehrseite. Der Legende nach – sie war ziemlich wohlhabend – verschenkte sie all‘ ihren Besitz an die Armen.»

«Hast Du Deinen Besitz auch unter die Armen verteilt?»

«Nein, mein Lieber. Ich hatte zeitlebens nur wenig Besitz. Aber ich habe – so hochtrabend es auch klingen mag – mir geistigen Besitz angehäuft. Ich möchte ihn gerne mit den Menschen teilen. Doch das fällt mir schwer, denn ich lebe im Altersheim. Es macht mich traurig, dass kaum ein Mensch mit mir spricht. Deshalb spreche ich manchmal einfach Leute an. So wie Dich gerade. Doch die meisten Menschen lächeln nur verlegen und gehen dann weiter. So trage ich halt weiterhin die Last einer geistigen Bürde, die einfach nicht leichter werden will…»

Es ist wieder sonniges Wetter. Doch das Bänklein ist seit Tagen verwaist.

Das Altersheim ist wegen eines Virus‘ zugesperrt.

Wie es wohl Cäcilia in der Quarantäne ergeht?

Hoffentlich überlebt sie diese Zeit der Isolation.

Ich habe Sehnsucht nach ihren weisen Worten.

 

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