Als Jugendlicher war mir der Karfreitag übelster Tag der Langeweile, denn keine Vergnügungsstätte hatte geöffnet. Heute, im ‚reifen Alter‘, sehe ich diesen Tag mit ganz anderen Augen.

Der Karfreitag, der Gedächtnistag des Todes Jesu am Kreuz, hat seinen Namen von dem altdeutschen Wort «Kara» bzw. «Chara», das Trauer bedeutet. Deshalb wird die gesamte Woche als Karwoche bezeichnet.

Die protestantischen Christen zelebrieren den Karfreitag als eines der höchsten kirchlichen Feste des Kirchenjahres. Dieser wichtige Tag, auch «Stiller Freitag» genannt, erinnert an die heilige Grösse des Leidens und Sterbens Jesu, an die weltgeschichtliche Bedeutung des Ereignisses auf Golgatha. Dort vollbrachte Jesus am Stamm des Fluchholzes das Erlösungswerk für die schuldbeladene Menschheit, starb und wurde begraben, jedoch auferstand er am dritten Tag, dem Ostermorgen, siegreich von den Toten und erschloss uns dadurch den Zugang zum ewigen Leben.

In der alten Kirche wurde der Karfreitag ohne jegliche Feierlichkeiten im Gottesdienst begangen, auch ohne die Feier der Eucharistie (Heiliges Abendmahl) und ohne Predigt. Auch in der heutigen katholischen Kirche findet am Karfreitag kein Glockengeläut, kein Orgelspiel und keine Kirchenmusik statt.

Das Ausbleiben des Glockengeläuts in der katholischen Kirche von Gründonnerstag bis zur Osternacht ist Teil einer tief verwurzelten Tradition, die symbolisch die Trauer über den Tod Jesu Christi darstellt. Ein volkstümlicher Brauch erklärt dies damit, dass die Glocken in dieser Zeit «nach Rom fliegen», um gesegnet zu werden. Diese Erzählung soll die liturgische Stille und den Verzicht auf feierliche Klänge während der Karwoche verdeutlichen. Erst in der Osternacht, die die Auferstehung Jesu feiert, kehren die Glocken zurück und läuten wieder, um die Freude über das neue Leben und den Sieg über den Tod zu verkünden. Dieser Brauch ist besonders in vielen Teilen Europas verbreitet und wird oft verwendet, um Kindern die Bedeutung dieser stillen Tage näherzubringen.

Die Konsekration der Abendmahlselemente wird am Gründonnerstag vorgenommen, da am Karfreitag eben das Messopfer nicht gefeiert werden darf. Der ganze Tag gilt als einer stiller Einkehr, der tiefsten Busse und Trauer, und ist als strengster Fasttag anerkannt. Der von seinem Schmuck entblösste Altar, das offene Tabernakel, die schwarzen Paramente stimmen die Gläubigen auf ernste Gedanken an das grosse Geheimnis auf Golgatha ein.

Im Mittelpunkt der Karfreitagsliturgie steht die Enthüllung und Verehrung des Kreuzes, die «Adoratio crucis». Während der sogenannten Grabesruhe des Herrn sind in den meisten katholischen Kirchen «Heiliggräber» aufgestellt; eines der prächtigsten befindet sich im Münster in Freiburg im Breisgau.

Die Ostkirchen (griechisch-orthodoxe Kirchengemeinschaften) versinnbildlichen in ihrem Kultus auf besonders eindrückliche Weise das Leiden und Sterben des Erlösers. Ergreifend erklingen die herrlichen Kultusgesänge in der Kar- und Osterwoche in den Kirchen. Als Textbeispiel dient das folgende Kirchenlied:

«An das Kreuz geheftet, freiwillig, o Mitleidiger, in das Grab gelegt als Toter, o Lebensspender, hast du die Herrschaft des Todes vernichtet, o Mächtiger, durch deinen bittern Kreuzestod. Denn vor dir erbebten die Pförtner des Hades. Du hast mitauferweckt die von der Urzeit Gestorbenen, als einzig Menschenliebender! König, hängend am Holz, o einzig Mächtiger, hast du die ganze Schöpfung bewegt. Als du ins Grab gelegt wurdest, hast du die in den Gräbern Wohnenden auferweckt, Unsterblichkeit und Leben dem Menschengeschlecht schenkend: Deshalb verherrlichen wir lobsingend dein nach drei Tagen erfolgtes Erwachen! Als Lebenbringender erschienst du, o Christus; dein Grab ist der Quell unserer dereinstigen Auferstehung!»

So erleben die Gläubigen der Ostkirche gleichsam die Passion des göttlichen Dulders innerlich mit.

In den protestantischen Kirchen gilt der Karfreitag ebenfalls als Tag ernster Busse und als einer der höchsten Feiertage, vornehmlich als Abendmahlstag. Die am Palmsonntag Konfirmierten treten am Karfreitag zum ersten Mal zum Tisch des Herrn und gelten fortan als selbstständige Glieder der evangelischen Landeskirche.

In allen evangelischen Kirchen wird in den Gottesdiensten und Predigten am Karfreitag auf das Kreuz auf Golgatha hingewiesen. Die Geschichte von Jesu Leiden und Sterben kommt in den herrlichen Passionsliedern und in den erhabenen Musikwerken eines Johann Sebastian Bach zum Ausdruck. Immer wieder werden weinende Augen und brechende Herzen nach dem Marterholz auf Golgatha blicken, wenn die Gemeinde Paul Gerhardts unsterbliches Lied «O Haupt voll Blut und Wunden» im Karfreitagsgottesdienst singt.

Die Geschichte des Karfreitags als offizieller Feiertag in der reformierten Schweiz reicht erst auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Die erste Anregung hierzu gab ein Laie, der berühmte Palästinareisende Dr. med. T. Tobler, indem er als appenzellischer Nationalrat in der Bundesversammlung in Bern im Jahre 1857 die zürcherischen Vertreter aufforderte, auf die Erhebung des Karfreitags zum hohen kirchlichen Feiertag in der gesamten evangelischen Schweiz hinzuwirken. Der Regierungsrat des Kantons Zürich wies diese Anregung an den Kirchenrat, und dieser veranstaltete mit Zustimmung der reformierten Synode die erste schweizerische Kirchenkonferenz in den Tagen vom 27. und 28. April 1858 in Zürich, die von den Kirchenbehörden sämtlicher dreizehn evangelischen Stände besucht wurde.

Die Anregung fand lebhaften Beifall. Die Konferenz beschloss, auf die Einführung des Karfreitags als hohen Festtag hinzuarbeiten, um aus der wenig einheitlichen Feier der Karwoche herauszukommen und ein neues Band der Einigung zwischen den verschiedenen reformierten schweizerischen Landeskirchen zu schaffen. In den folgenden Jahren erfolgten kurz nacheinander die bezüglichen Beschlüsse in den verschiedenen Kantonen, so dass schon im Jahre 1861 zum ersten Mal der Karfreitag in der gesamten reformierten Schweiz begangen wurde.

So verbindet die stille Tradition des Karfreitags tiefe Trauer mit der hoffnungsvollen Erwartung der Osterfreude, und erinnert uns daran, dass nach jeder Dunkelheit das Licht der Auferstehung leuchtet.

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