Ich möchte heute eine etwas seltsame Weihnachtsgeschichte niederschreiben, die mir mein Grossvater aus der Hinteren Gasse vor Jahrzehnten erzählt hat.

Ich bin damals, so ich mich richtig entsinne, höchstens 6jährig gewesen und ich habe gerne Geschichten, wie übrigens die meisten Kinder, gelauscht. Vor allem Geschichten, die sich in dunklen, früheren Zeiten abgespielt haben.

Ich habe sonst nicht viele Erinnerungen an diesen Grossvater väterlicherseits. Gut, er hatte ja auch eine stolze Anzahl Grosskinder. Nicht nur mich. Ich kann mich deshalb nur an diese eine Geschichte erinnern. Und dass er mir die Uhrzeit gelehrt hat.

Die Uhrzeit zu kennen, war mir damals äusserst wichtig, denn ich wollte um keinen Preis die Kinderstunde, welche immer um 17.30 Uhr jeweils montags, mittwochs und freitags im Radio Beromünster lief, verpassen.

Grossvater hat mir also anhand seiner prächtigen Revue-Taschenuhr die Uhrzeit beigebracht. Vielleicht wollte er auch einfach diesen «Stürmi» loswerden, der ihn immer wieder gefragt hatte: «Grossätti, wie spät ist es? Weisst Du, ich möchte die Kinderstunde ja nicht verpassen!»

Doch zurück zu dieser Weihnachtsgeschichte. Sie spielte sich im sog. Hochmittelalter, so ums 12. Jahrhundert, ab. Also zu einer Zeit, wo sich das Christentum bereits etabliert hatte. Die Kirche zu St. Peter, wohl um ca. 1100 erbaut, spielt nämlich in dieser Erzählung auch eine Rolle.

Hier also die Geschichte, die mir mein Grossvater vor 60 Jahren erzählte:

Im damaligen Onoldswil, die heutigen Dörfer Niederdorf und Oberdorf sowie auch Waldenburg gehörten dazu, lebten auf verstreuten Höfen einige Bauern, die sich der Leibeigenschaft entledigen konnten. Doch im Gebiet der heutigen Hinteren Gasse fristeten Leibeigene ihr tristes Dasein. Die Frenke mäanderte bis in die spärlich Schutz bietenden Hütten dieser Leute. Ratten und weiteres Ungetier machten es den dort hausenden Bewohnern noch schwerer.

Die Kleinhäusler hatten ein entbehrungsreiches, mühseliges Leben. Sie verdingten sich bei den Bauern um einen kargen Lohn, der selten ausreichte, um die kinderreichen Familien zu ernähren.

Doch etwas einte diese Menschen: Ihr alter Glaube an Götter und Magie. Sie verehrten, natürlich nur im Versteckten, ihre höchste Gottheit Wuodan (Wotan) nebst weiteren Gottheiten wie auch Naturgeistern. Ganz im Gegensatz zu den freien Bauern auf ihren Höfen. Diese huldigten schon längere Zeit dem Christentum. Wohl auch als Bückling ans Bistum Basel und später an die Frohburger.

Es war wieder einmal Winter und es lag viel Schnee. Klirrend kalt war es dazu auch noch. Anders als die Jahre zuvor, die geprägt von milden Wintern gewesen waren. Die Kleinhäusler in der Hinteren Gasse freute das nicht, denn sie konnten ihre Hütten nur schlecht heizen und so geschah es, dass die meisten Kleinhäusler an einem seltsamen Fieber erkrankten. Ihre Gesichter wurden wächsern und das Atmen fiel ihnen schwer. Das Fieber raffte vor allem Kinder dahin. Es war ein grosses Wehklagen in der Hinteren Gasse.

Als das Fieber immer schlimmer wütete, beriefen die Ältesten einen Rat ein. Doch auch der Rat fand keine machbare Lösung. Da trat Aribald in die Mitte der Runde. Er, ein Mittdreissiger, zeigte immer wieder Leiterschaft. Die Kleinhäusler schätzten ihn, weil er sich stets für sie einsetzte. Bei der Obrigkeit wie auch bei den freien Bauern.

Er schaute ernst in die Runde und verkündete:

«Männer, es muss etwas geschehen, ansonsten wir dieses Fieber nicht überleben werden. Ich werde mich aufmachen, den Hexenmeister im hinteren Birch (im heutigen Banne Eptingen) um Rat zu fragen.»

Die Männer schauten ihn entsetzt an, denn sie fürchteten sich vor diesem Hexenmeister, der seine dunkle Magie unter Duldung der Obrigkeit ausübte. Man munkelte, dass er sogar Menschen kraft seiner Magie töten konnte.

Trotz der Ängste des Ältestenrates machte sich Aribald auf, den Hexenmeister im hinteren Birch aufzusuchen. Es war ihm ein äusserst beschwerlicher Marsch, denn der Schnee lag zumindest knietief auf Wiesen und Matten. Bis in den Wallibach ging es ihm noch leidlich voran. Doch das letzte Wegstück hin zur hinteren Birch war äusserst steil. Schneewehen musste er mühsam durchqueren. Immer wieder ruhte er sich aus.

Aus der Ferne vernahm er plötzlich ein unheilvolles Heulen. Das waren sicherlich Wölfe, die zu jener Zeit in kleinen Rudeln umherzogen. Unruhig schaute sich Aribald um, doch die Wölfe zeigten sich zu seiner grossen Erleichterung nicht.

Endlich erblickte er das kleine Gehöft des Hexenmeisters. Aus dem Kamin schlängelte sich dunkler Rauch. Aribald schluckte dreimal leer. Er hatte natürlich schon auch Angst vor dem Hexenmeister. Doch dann fasste er sich ein Herz, klopfte kräftig an die Türe und wartete darauf, dass ihm der Hexenmeister Einlass gewährte.

Die Türe öffnete sich einen Spalt breit und eine heisere Stimme liess sich vernehmen: «Wer bist Du? Was willst Du?»

Aribald stellte sich vor und erzählte ihm vom bösen Fieber, dem die Kinder der Hinteren Gasse zum Opfer fielen. Der Hexenmeister öffnete die Türe und liess Aribald eintreten. «Du bist also einer der Kleinhäusler aus der Hinteren Gasse. Das ist das erste Mal, dass einer dieser armen Kleinhäusler sich bei mir meldet. Ansonsten habe ich nur Lehensherren und vermögliche Bauern, die meine Dienste beanspruchen. Sie zahlen mich gut für meine Dienste. Du aber wirst wohl kein Scherflein für meine Dienste beitragen können, nicht wahr?»
Aribald schluckte leer und musste zugeben, dass er mit leerem Beutel vor ihm stehen würde.

Der Hexenmeister lachte verächtlich und verhöhnte ihn mit den Worten: «Du glaubst wohl selber nicht, dass ich etwas ohne Entgelt leiste. Aber ich werde Dir trotzdem helfen. Als Entgelt erwarte ich jedoch, dass du mir das erste Kind, welches gesundet, zu mir ins hintere Birch bringst.»

Aribald erschrak zutiefst. Was würde wohl diesem Kinde beim Hexenmeister widerfahren?. Entsprechende Geschichten machten in der Hinteren Gasse ihre Runden. Doch ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Hexenmeister dieses Versprechen abzugeben.

«Hör‘ zu», raunte der Hexenmeister. «Ich gebe Dir ein probates Mittelchen zur Eindämmung des Fiebers. Es ist getrockneter und pulverisierter Wolfsdarm. Das musst Du den Erkrankten mit etwas Rehblut gemischt eingeben. Du wirst sehen, dass sich das Fieber unverzüglich verabschiedet. Hast Du Rehblut zuhause?»

«Ja, das habe ich. Erst kürzlich habe ich einen Rehbock gewildert. Dessen Blut habe ich in einem Trinkledersack aufbewahrt. Erzähl‘ das bitte nicht den Lehensherren. Ansonsten würde mich eine harte Strafe treffen.»

«Nein, das bleibt unter uns,» antwortete ihm der Hexenmeister. Er überreichte ihm einen Beutel mit dem pulverisierten Wolfsdarm und machte ihn nochmals eindringlich auf sein Entgelt aufmerksam.

«Pass‘ auf die Wölfe auf. Sie sind derzeit ziemlich hungrig und werden wohl auch das Pülverchen riechen, was sie nur noch wilder machen wird.»

Aribald bedankte sich beim Hexenmeister, verstaute den Beutel sorgsam unter dem Gewand und marschierte zügig los. Er musste sich beeilen, um noch bei Tageslicht heimzugelangen. Doch plötzlich vernahm er wieder Wolfsgeheul. Ängstlich schaute er sich um. Und jetzt sah er sie. Ein Rudel von etwa acht Wölfen, vom Rehhag herkommend, hatte Witterung aufgenommen.

Blick auf Rehhag

Auf diesen Baum (roter Pfeil) flüchtete sich Aribald.

Aribald wollte flüchten, doch die Schneemassen hinderten ihn daran. Die Wölfe kamen in hohen Sätzen immer näher. In letzter verzweifelter Not, er konnte schon den geifernden Atem der Wölfe riechen, rettete er sich auf einen nahen Baum, der sich auf der Anhöhe zum Wallibach befand.

Keine Sekunde zu früh. Die Wölfe schnappten schon nach ihm. Sie umkreisten den Baum und sprangen immer wieder am Stamm hoch. Dann umlagerten die Wölfe den Baum. Sie rechneten wohl damit, dass sich Aribald nicht lange auf dem Baum halten konnte.

Die Zeit verstrich. Es dämmerte und wurde dann dunkel.

Plötzlich hörte er aus weiter Ferne die Glocken der Kirche zu St. Peter läuten. Was das wohl zu bedeuten hatte?

Doch nun fiel Aribald ein, dass heute der 24. Dezember sein musste und dass die Glocken die Weihnachtsmesse einläuteten. Aribald spottete gerne über dieses seltsame Ritual der Christen. Für ihn und die anderen Kleinhäusler der Hinteren Gasse zählte Weihnachten nicht. Doch jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als in der sicheren Kirche zu St. Peter zu sein.

Die Wölfe verhielten sich erstaunlich ruhig. Sie waren sich ihres Sieges sicher. Aribald zitterte vor Kälte. Nur mühsam konnte er sich an den Ästen festhalten.

Wie lange würde er noch durchhalten können?

Doch dann geschah etwas Unfassliches. Der Baum auf der Anhöhe wurde in ein gleissendes Licht getaucht. Die Wölfe heulten entsetzt auf. Aribald stockte der Atem.

War das etwa Wuodan? Nein, er konnte es nicht sein. Denn Wuodan, so wurde erzählt, kam nur mit wildem Brausen und Getöse daher.

Dann vernahm Aribald eine sanfte, jedoch klare Stimme, die ihm mitteilte, dass ihm von den Wölfen keine Gefahr mehr drohe. Er werde sie so lange niederhalten, bis er in Sicherheit sei. Doch müsse er sich des Wolfpulvers entledigen, denn das Pulver würde nur einem Kinde helfen, die anderen aber alle töten. Der Hexenmeister habe das Pulver magisch besprochen.

Das gleissende Licht wurde etwas schwächer und Aribald konnte eine grosse, weisse Gestalt erkennen.

«Das muss wohl ein hoher Engel der Christen sein», dachte er zu sich selber.

«Ja, ich bin der Erzengel Gabriel, der vor über tausend Jahren die Geburt Jesu verkündet hat. Ich verkündige Dir jetzt in dieser heiligen Nacht, dass Du vom alten Glauben abschwören sollst und Dir und Deiner Sippe geschehe Gutes. Auch werde ich dafür sorgen, dass kein Kind jemals in die Hände des Hexenmeisters gerät.»

Aribald wurde bei diesen Worten gleichzeitig heiss und kalt. Wie sollte er das alles nur verstehen? Konnte er sich vom alten Glauben lösen? Doch hatte er denn eine Wahl? Er musste dem Engel einfach vertrauen.

«So steige jetzt vom Baum herunter. Dir wird nichts geschehen.»

Aribald stieg gehorsam den Baum herunter. Sein Herz pochte wild.

Würde der Engel sein Wort halten?

Die Wölfe lagen wie betäubt im Schnee. Sie regten sich nicht und Aribald konnte ohne Gefahr über ein paar Wölfe steigen und seinen Heimweg fortsetzen. Dann besann er sich noch darauf, dass er sich des Wolfbeutels entledigen musste. Er warf ihn weit von sich. Die Wölfe heulten kurz auf. Dann war wieder Stille. Doch plötzlich ein lautes Krachen. Feuerrot färbte sich der Himmel hinter ihm. Das Haus des Hexenmeisters brannte lichterloh und der Hexenmeister kam elendiglich in den Flammen um.

Noch immer beeindruckt von all‘ diesen Ereignissen machte sich Aribald auf den Heimweg. Mit zügigen Schritten kam er gut voran. Ihm war leicht ums Herz und zufrieden stapfte er durch den Schnee. Schon bald konnte er die Umrisse der Hütten in der Hinteren Gasse wahrnehmen.

Dort erwarteten ihn bereits die Kleinhäusler. Sie schrien wild durcheinander:

«Aribald, ein Wunder ist geschehen. Das Fieber ist fort.. Alle sind wieder gesund. Da hat der Hexenmeister mächtige Magie gewirkt!»

«Nein, das war nicht der Hexenmeister. Der wollte uns Böses. Es war der Erzengel Gabriel oder auch der Christengott. So genau weiss ich es nicht.»

Nun erzählte er der aufgeregten Menge seine Erlebnisse. Und wie er dem Erzengel versprochen hatte, dass er dem alten Glauben abschwöre. In seinem Inneren sei etwas Wunderbares geschehen. Es sei ihm, als hätte sich sein Herz weit geöffnet und etwas sei bei ihm eingekehrt, was er noch nie empfunden habe.

«In Dir ist das göttliche Kind geboren!» liess sich eine leise Stimme in seinem Inneren vernehmen.

«In dieser Heiligen Nacht haben sich alle Kleinhäusler der Hinteren Gasse zum Christentum bekehrt und wurden dadurch zu innerlich freien Menschen, und das ist so geblieben bis zum heutigen Tag,»

Mit diesem Satz hat Grossvater seine wunderliche Weihnachtsgeschichte beendet.

Er schaute mich liebevoll an, streichelte mir über den Kopf und ging dann in seinen Holzschopf. Gefühlsregungen waren halt nicht so sein Ding.

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