Als Schüler in der dritten Primarklasse hatte ich das Glück, von meinem Lehrer in die Welt der Sagen von Oberdorf eingeführt zu werden. Jeden Samstagmorgen bereicherte er unseren Unterricht mit gruseligen Geschichten, die uns Kinder faszinierten und manchmal auch ein wenig ängstigten. Eine dieser Geschichten war die Sage vom «Hangelimattjoggi», die mir besonders im Gedächtnis geblieben ist. Jetzt, Jahrzehnte später, habe ich beschlossen, diese Sage aufzuschreiben und mit euch zu teilen.

Es war ein schwülheisser Tag im späten Heumonat. Die Onoltzwiler waren allesamt auf ihren Feldern und brachten das letzte Emd ein. Manch einer musste sich immer wieder den Schweiss von der Stirne wischen, und die Kinder riefen ein ums andere Mal nach einem Schluck aus der tönernen Wasserflasche. Doch die Mütter mahnten die Kinder zur Sparsamkeit, denn die Wasservorräte waren knapp.

Just als die Glocken zu St. Peter zur Vesper[1] läuteten und sich die Onoltzwiler zum Gebet auf ihren Feldern versammelten, ertönte ein schauriges Gelächter von der Hangelifluh herab. Die Feldarbeiter erstarrten und blickten voller Furcht zur Fluh hinauf. Eine dröhnende Stimme brach sich durch die Stille:

«Ihr Toren, wendet euch den Göttern der Natur zu und nicht dem fahlen Christengott, denn die Götter sind erzürnt über euer Tun. Fleht um ihre Gnade, bevor es zu spät ist. Ansonsten werdet ihr untergehen!»

Diese Worte stammten von Joggi, einem rauen und gottlosen Gesellen, dessen Herkunft niemand kannte. Er war eines Tages wie aus dem Nichts erschienen, so unvermittelt wie ein jähes Gewitter. Die Dorfbewohner mieden ihn, abgestossen von seinem wilden Äusseren und seinem ungehobelten Gebaren. Doch trotz seiner tiefen Verachtung für die Menschen hegte er eine innige Verbundenheit zu Tieren und der Natur. Joggi trug Kleidung aus Fell und Leder, die er eigenhändig gefertigt hatte, seine Haare waren lang und wirr, und seine Augen spiegelten die Dunkelheit der Wälder wider. Er lebte in den Schatten der Bäume und der Felsspalten der Hangelifluh, und seine Stimme hallte über das Tal, wenn er den Wind und die Tiere zu Zeugen seiner Klagen machte.

Die Bewohner von Onoltzwil hatten begonnen, die Natur zu schänden. Sie fällten Bäume, ohne neue zu pflanzen, jagten die Wildtiere und verschmutzten den Bach mit allerlei Unrat. Die Onoltzwiler fühlten sich dabei unbeobachtet und sicher, weil Onoltzwil zu dieser Zeit keiner festen Herrschaft unterstand. Es klaffte eine Lücke zwischen den bisherigen Herrschern, den Frohburgern, und dem nachmaligen Bistum Basel. Das Fehlen jeglicher Obrigkeit erlaubte es ihnen, nach eigenem Gutdünken zu schalten und zu walten, ohne Angst vor vogtlichen Strafen.

Obwohl ihnen Joggis düstere Natur missfiel, überliessen die Dorfbewohner ihm doch ihre Ziegen, wissend, dass er sie mit grösster Sorgfalt hütete. Joggi waltete über die Tiere mit einer Zuneigung, die in grellem Widerspruch zu seiner sonstigen Unbill gegenüber den Menschen stand.

Doch an jenem schwülen Tage, als er seinen verhängnisvollen Fluch über die Bewohner sprach, wandelte sich das Geschick. Die Erde selbst begann zu beben, als wären die alten Götter des Berges erwacht und voll des Zornes über die Freveltaten der Menschen. Mit einem gewaltigen Donnern lösten sich urplötzlich riesige Felsmassen von der Hangelifluh. Wie von titanischen Händen geschleudert, stürzten sie herab und brachten Tod und Verderben über alles, was sich unter ihnen befand. Jahrhundertealte Bäume wurden entwurzelt, als seien sie nicht mehr als dürres Reisig. Der Himmel verdunkelte sich unter einer dichten Staubwolke, die die Sonne verbarg.

Mitten in diesem gewaltigen Untergang versuchte Joggi verzweifelt, seine Herde zusammenzurufen, doch es war vergebens. Der Boden unter seinen Füssen gab nach, und mit einem letzten, durchdringenden Schrei, der im tosenden Lärm der niederstürzenden Felsen verhallte, wurde auch er von den Trümmern verschlungen. Das Echo seines Schreis hallte durch den nun stummen Dielenberg, ein düsteres Zeugnis der unerbittlichen Kraft der Natur.

Als die Felsmassen niederprasselten und das Tal unter sich begruben, ereignete sich noch ein weiteres Unheil. Die Frenke, deren Wasserströme zuvor durch das Tal mäanderten, wurde jäh durch die gestürzten Trümmer gestaut. Wie von einer unsichtbaren Hand zurückgehalten, schwollen ihre Fluten rasch an, stauten sich höher und höher, bis sie schliesslich das gesamte Tal überfluteten. Das Wasser stieg unaufhaltsam, verschlang Felder, Gärten und Wege und kletterte schliesslich auch die Mauern der St. Peter Kirche empor. Die Fluten, so heisst es, reichten bis zur Spitze des Kirchturms, sodass nur noch das Kreuz über der Wasseroberfläche zu erkennen war. Dieses Geschehen glich einer biblischen Sintflut, als ob die Erde selbst sich empörte, um die Sünden der Menschen hinwegzuschwemmen.

Die einst lebendigen Stimmen des Dorfes verstummten, und an ihrer Stelle hörte man nur noch das bedrohliche Grollen des Wassers, das nun herrschte, wo einst Lachen und Leben waren. Das Bild der überfluteten Kirchturmspitze brannte sich in das Gedächtnis der Überlebenden ein, ein stummes Mahnmal der Naturgewalten, die Joggi heraufbeschworen hatte.

Die wenigen Überlebenden von Onoltzwil standen vor den Ruinen ihrer Lebensgrundlagen, unfähig, die Katastrophe zu begreifen. Doch in den folgenden Nächten, wenn der Wind durch die zerstörten Wälder strich, konnte man es hören – das Fluchen des Joggi, den sie in ihrer Erinnerung nur noch den Hangelimattjoggi nannten.

Und so wissen die Bewohner von Onoltzwil, dass sie die Natur ehren müssen. Denn der Hangelimattjoggi könnte noch da draussen sein, irgendwo im Schatten der Bäume, lauernd, wartend, dass jemand seinen Dielenberg erneut missachtet. Dann wird er wieder kommen, so sicher wie der Mond aufgeht und die Sterne funkeln. Niemand möchte erneut den Zorn des Hangelimattjoggi wecken.

So mögen sich die heutigen Bewohner von Oberdorf stets daran erinnern, dass die Lehren der Vergangenheit auch in der Gegenwart ihre Gültigkeit haben. Lasst uns also mit Bedacht und Respekt handeln, die Wälder schonen, die Wasser sauber halten und die Erde ehren, die uns nährt und beherbergt. Denn nur so können wir vermeiden, erneut den Zorn des Hangelimattjoggis zu entfesseln. Die Natur ist ein mächtiger Verbündeter, doch in ihrer Zornesglut ein furchtbarer Gegner.

[1] In der römisch-katholischen Tradition bezeichnete «Vesper» eine der liturgischen Stunden des Stundengebets, die am späten Nachmittag oder Abend gebetet wurde, typischerweise gegen 18 Uhr.

 

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