Auch diese Sage, die mein Lehrer in der dritten Primarklasse erzählte, hat mich nie ganz losgelassen. Sie erzählt von Gerechtigkeit und Rache, von dunklen Nächten und dem unheimlichen Glühen eines einsamen Auges, das in der Finsternis leuchtet. Auch heute, viele Jahre später, erinnere ich mich noch genau an die erschrockenen Blicke meiner Klassenkameraden, als unser Lehrer die letzte Zeile der Geschichte las. Mit dieser tiefen Prägung möchte ich nun diese alte Sage weitergeben, in der Hoffnung, dass sie auch andere so fesselt und begeistert, wie sie es einst bei uns tat.

In der Zeit, die wir heute als das Spätmittelalter kennen, spielte die Römerstrasse eine zentrale Rolle für das Waldenburgertal, indem sie den Menschen dort Wohlstand und Freude brachte. Diese wichtige Handelsroute führte vom Oberrhein ins Mittelland und weiter nach Südfrankreich oder über die Alpenpässe nach Italien.

In dieser geschichtsträchtigen Zeit herrschte Graf Sigmund von Thierstein mit Milde und Gerechtigkeit über sein Reich. Sein Schloss, genannt die Waldenburg, thronte stolz auf einem zerklüfteten Felsgrat und bot einen weiten Rundblick. Während seiner Herrschaft erlebte das Tal eine Blütezeit, in der die Römerstrasse Kaufleute, Händler und Reisende anzog, die Wohlstand in die Region brachten.

Graf Sigmund ward weithin dafür gerühmt, dass er seine Untertanen mit Gerechtigkeit und Billigkeit behandelte. Er erhob gerechte Steuern und förderte den Handel, indem er die Sicherheit auf den Wegen gewährleistete. Seine Weisheit und Milde machten das Tal zu einem Ort des Friedens und der Prosperität. Doch dieser Frieden sollte nicht ewig währen, denn dunkle Wolken des Krieges zogen am Horizont auf.

Im Jahre des Herrn 1375 zog Enguerrand de Coucy, getrieben von der Gier nach dem ihm von den Habsburgern vorenthaltenen mütterlichen Erbe, mit einem gewaltigen Heer von 22.000 Söldnern, den gefürchteten Guglern, durch das Schweizer Mittelland. Ihr Marsch war von Verwüstung und Leid geprägt, und als sie das Waldenburgertal erreichten, hinterliessen sie Zerstörung und Tod. Sie schonten weder Mann noch Weib und nahmen Graf Sigmund gefangen, der der überwältigenden Stärke der feindlichen Streitmacht machtlos gegenüberstand.

Mit Graf Sigmunds Gefangennahme fiel die Macht in die Hände seines Verwalters, eines Mannes von niederträchtiger Gesinnung und unersättlicher Gier. Dieser neue Herr des Tals, ein Tyrann in der Verkleidung eines Verwalters, verdoppelte die Lasten der Bauern. Er schonte nicht die Armen und forderte von ihnen hohe Zehnten und Frondienste. Er beanspruchte die besten Früchte ihrer Felder und entzog den Bauern, die die geforderten Abgaben nicht leisten konnten, erbarmungslos das Vieh.

In einer verhängnisvollen Nacht, als der Verwalter nach Basel gereist war, um seine Reichtümer zu mehren, brach eine Seuche aus, die in ihrer Wirkung der Pest ähnelte, die bereits im Jahre 1349 das Tal heimgesucht hatte. Diesmal jedoch schien es die Maul- und Klauenseuche zu sein, die zwar die Menschen verschonte, aber das Vieh dahinraffte – insbesondere jenes Vieh, das der Verwalter den Bauern genommen hatte.

Als der Verwalter zurückkehrte und die Kunde vom Tod seiner Tiere vernahm, überwältigte ihn ein Sturm aus Wut und Verzweiflung. Vor Schmerz und Zorn zitternd, trat er ins Freie, seine Blicke gen Himmel gerichtet, wo dunkle Wolken sich bedrohlich zusammenzogen. Mit geballten Fäusten und aufgerissenen Augen richtete er seine Wut und Verzweiflung gegen den Himmel selbst und verfluchte den Herrn.

«Du hast meine Tiere getötet, so friss sie auch!», donnerte er mit einer Stimme, die von wilder Raserei durchdrungen war.

Kaum waren diese Worte verklungen, da zuckte ein Blitz herab, so hell und furchterregend, dass er die Nacht zum Tage machte. Donner rollte durch das Tal, und der Verwalter wurde nicht mehr gesehen. An seiner Stelle erschien ein grosser, schwarzer Hund, dessen einziges Auge wie eine glühende Kohle leuchtete. Dieses Wesen, nun bekannt als der Weltenhund, begann sogleich, sich an den verendeten Tieren zu laben.

Seitdem wandert der Weltenhund jede Nacht durch das Tal. Sein einziges, grosses Auge glüht in der Dunkelheit wie ein glimmender Kohlebrocken in der Asche, und obwohl er nie bellt, ist seine stille Gegenwart umso furchteinflössender. Allein sein Anblick lässt das Blut in den Adern der Menschen gefrieren.

In Zeiten von Seuchen oder nahendem Unheil erscheint der Hund wohlgenährt und fett, ein Omen der drohenden Katastrophe. Doch in Friedenszeiten ist er eine magere, schattenhafte Gestalt, die durch die Wälder streift.

Diese Erscheinung dient als Mahnung und Warnung an die Lebenden, dass Gerechtigkeit letztlich selbst die Mächtigsten einholen wird. So bleibt der Weltenhund eine ewige Erinnerung an die dunklen Tage des Waldenburgertals und eine Lektion, dass überirdische Kräfte stets wachen, bereit, diejenigen zu strafen, die ihre Macht missbrauchen.

 

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