In den 1960er Jahren, als ich noch ein Primarklässler war, begann jeder Schultag mit einem gemeinsamen Lied. Diese schöne Tradition des gemeinsamen Singens vor dem Unterricht scheint heutzutage verschwunden zu sein. Gerne möchte ich diesen verloren gegangenen Brauch zum Anlass nehmen, um einen Ausflug ins Reich der Liedermacher und Troubadours zu machen.

Mit einer Spur von Wehmut frage ich mich: Wo sind sie nur geblieben, unsere einst so zahlreichen Barden, die als Liedermacher durch die Lande zogen? Zu nennen sind Ernst Born, Fritz Widmer, Mani Matter, Jacob Stickelberger, Dieter Wiesmann, Henri Dès, Pascal Auberson und Marco Zappa, um nur einige zu erwähnen.

Ein charakteristisches Merkmal dieser Liedermacher aus den 1960er und 1970er Jahren war die Personalunion von Textdichter, Komponist und Interpret. Dieses Ideal des «Cantautore» hatte seine Wurzeln in der Vergangenheit – vom blinden Sänger Alois Glutz, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Lande zog, bis hin zu den Sängervätern wie Gilles oder Hanns Indergand.

Diese Liedermacher standen oft im Einklang mit den politischen und sozialen Bewegungen ihrer Zeit. Sie fanden Inspiration in der globalen Protestkultur gegen Krieg, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung. Die musikalischen Wurzeln dieser Künstler waren vielfältig: von traditionellen Volksliedern über die französische Chanson-Tradition bis hin zu Einflüssen der amerikanischen Folk-Musikbewegung. So vermischten sich die poetischen Ausdrucksformen von Bob Dylan mit den kämpferischen Tönen eines Georges Brassens in den Werken von Liedermachern wie Dieter Wiesmann, deren Lieder oft eine direkte Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte darstellten.

In einer Zeit des Umbruchs boten die Lieder dieser Künstler nicht nur Unterhaltung, sondern dienten auch als Medium für gesellschaftliche und politische Kritik. Die Barden der 1970er Jahre waren oft mehr als nur Musiker; sie waren Sprachrohre einer Generation, die sich nach Veränderung sehnte. Ihre Texte reflektierten die Sehnsüchte und Sorgen dieser Zeit, sprachen von Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit und wurden so zu einem unverzichtbaren Bestandteil der kulturellen Identität der Schweiz.

Von der zarten Poesie der Liebe bis hin zur scharfen Satire auf politische Zustände spannte sich der thematische Bogen der Liedermacher. Henri Dès, der später vor allem als Kinderliedermacher bekannt wurde, begann seine Karriere mit Liedern, die die Alltagssorgen und -freuden der Menschen einfingen. Marco Zappa hingegen verarbeitete in seinen Kompositionen oft seine Beobachtungen zur sozialen Ungerechtigkeit und politischen Situation in der Schweiz und darüber hinaus, wobei er stets eine universelle Botschaft der Hoffnung und Menschlichkeit vermittelte.

Die Liedermacher hinterliessen ein reiches Erbe, das bis heute nachklingt. Junge Schweizer Musikerinnen und Musiker wie Sophie Hunger oder Bastian Baker nennen oft die Pioniere des Schweizer Chansons als wichtige Einflüsse für ihre eigenen Werke. Sie übernehmen nicht nur musikalische Elemente, sondern auch das Engagement für soziale und politische Themen, das ihre Vorgänger ausgezeichnet hat.

Noch kurz zu den eingangs erwähnten Sängervätern wie Alois Glutz, Gilles oder Hanns Indergand. Vermutlich werden sich noch einige Leserinnen und Leser an das bekannteste Lied des blinden Troubadours Alois Glutz, 1789–1827, erinnern:

Morge früh, eh d’Sunne lacht,
Und si alles lustig macht,
Go ni zu di Chüene use,
Lo mers ob em Thau nit gruse,
Bi de Chüene uf der Waid
het der Senn si Freud. Jo juhe.

Alois Glutz wurde als Sohn des Stadtschreibers von Olten geboren und zog 1792 mit seiner Familie nach Solothurn, wo sein Vater als Seckelschreiber[1] tätig war. Trotz seiner Blindheit wurde Glutz sprachlich und musikalisch hochgebildet, spielte mehrere Instrumente und beherrschte mehrere Sprachen. Nach dem Tod seiner Eltern erbte er ein beträchtliches Vermögen, welches er teilweise zur Unterstützung der Armen verwendete.

Sein Leben lang war Glutz von verschiedenen Begleitern unterstützt, darunter Ludwig Rotschi, mit dem er landesweit musizierte und dessen Lieder publizierte. Glutz’ umfangreiches musikalisches Werk umfasst sowohl Gesangsstücke als auch Instrumentalmusik, von denen viele in späteren Jahren in Sammlungen aufgenommen wurden.

Alois Glutz verstarb 1827 und hinterliess ein bedeutendes musikalisches Erbe. 2018 wurde sein Gesamtwerk erstmals umfassend aufgearbeitet und veröffentlicht.

Hanns In der Gand, 1882–1947, war ein bedeutender Schweizer Volksliedsammler und Soldatensänger. Er absolvierte eine umfangreiche Ausbildung zum Sänger in Deutschland und arbeitete als Hofschauspieler, bevor er während des Ersten Weltkriegs als Soldatensänger in der Schweizer Armee tätig wurde. Hanns In der Gand, der Urner Barde mit polnischen Wurzeln, machte auch das Lied «Gilberte de Courgenay» im Laufe des Jahres 1916 überall in der Schweizer Armee bekannt. Aus dem Lied entstanden ein Roman und zwei Theaterstücke. Sie sind heute vergessen, nicht aber der Film von Franz Schnyder aus dem Jahr 1941.

Auch den legendären Gilles, 1895–1982, möchte ich noch kurz vorstellen.

Gilles, dieser Ahne der späteren Sängerpoeten, wurde auch als «Schutzheiliger des Westschweizer Chansons» bezeichnet. Er nannte sich einfach «Gilles» (bürgerlicher Name: Jean Villard-Gilles). Als er 1982 verstarb, trauerte die ganze Romandie – und mit ihr auch die Deutschschweiz. Denn Gilles‘ gutmütig-parodistischer «Le Männerchor de Steffisbourg» fand auch jenseits der Saane Anklang. Und das für Edith Piaf komponierte Chanson «Les trois cloches» machte ihn weltweit bekannt.

Die Stimmen dieser Liedermacher und Sängerpoeten mögen verklungen sein, doch ihr Echo hallt in den Herzen derer wider, die ihre Melodien und Botschaften bewahren und weitertragen.

[1] Ein «Seckelschreiber» war eine historische Amtsbezeichnung, die vor allem im deutschsprachigen Raum verwendet wurde. Der Begriff stammt aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit und bezeichnete einen Beamten oder Verwalter, der für die Finanzen einer Stadt oder Region verantwortlich war. Der Name «Seckel» leitet sich dabei von einem alten Ausdruck für Geldbeutel oder Kasse ab. Somit war der Seckelschreiber im Wesentlichen der Schatzmeister, der die Einnahmen und Ausgaben überwachte, die städtischen oder regionalen Finanzen verwaltete und oft auch die entsprechenden Buchführungen führte.

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