In früheren Zeiten hatten wir in Oberdorf – sogar im Fasnachtsmonat Februar – noch ziemlich viel Schnee. Ich erinnere mich daran, dass es damals während der Fasnachtszeit auch «Chluri-Rennen» am Wintenberg gegeben hat. Sehr zum Amüsement von uns Kindern.

Es war kurz vor der Fasnachtszeit, als es wieder einmal so richtig herunter schneite.
Die Schneeflocken wirbelten ihren wilden Tanz und liessen die Strassen, Gärten und den nahen Wald weiss werden. Ich spielte draussen mit meinem Nachbarskind Elsbeth Schneeflocken erhaschen.

Zuerst versuchten wir es mit unseren gestrickten Norweger Handschuhen. Das jedoch misslang uns meistens. Eine einzelne Schneeflocke einzufangen, war mit diesen Handschuhen nur schwer möglich. Dann versuchten wir, mit dem Mund nach Schneeflocken zu schnappen. Das ging leidlich gut und wir hatten unsere helle Freude daran.

Doch plötzlich rief es aus dem nahen Fenster des Nachbars: «Kinder, könnt ihr mir etwas aus dem Milchhüsli holen?» – «Ja, natürlich. Was denn?» Der Nachbar räusperte sich und meinte etwas verlegen: «Ich hätte gerne ein paar der grossen Mohrenköpfe, die man nur beim «Cheesi-Heiri» im Milchhüsli erhält. Ich liebe die so sehr und ihr beide bekommt natürlich auch einen.»

Das liessen wir uns nicht zweimal sagen. Er steckte uns einen «Zwöiliber» zu – damals konnte man sich damit die halbe süsse Welt kaufen – und reichte uns die von seiner Frau selbstgehäkelte Einkaufstasche.

Frohgemut machten wir uns auf den Weg. Unterwegs begegneten wir der gemeindeeigenen «Schneeschnützi» aus Holz, welche mehrspännig von Pferden gezogen wurde. Dieses Spektakel mussten wir uns natürlich ansehen. Wir kannten fast alle Pferde. Da war einmal die vielseitige «Meta» aus der Au. Dann die beiden stämmigen Kaltblüter von Gehrigs, welche auch als Rückepferde im Wald eingesetzt wurden. Der feurige Rappe aus «Chrättli-Kurts» Stall tänzelte zuvorderst im Gespann mit dem eher gemütlichen Fuchs von «Hollimarti».

«Jetzt müssen wir aber weitergehen,» mahnte ich Elsbeth. Wir wollten gerade die Hauptstrasse überqueren, als wir mitten auf der Strasse unseren Emil antrafen. Er war nur spärlich mit Hemd und Hose bekleidet und als Schuhwerk hatte er seine Hauspantoffeln an.

«Emil, was machst du da?» fragten wir ihn. Er murmelte nur: «Ich weiss nicht, wo ich bin. Ich möchte nach Hause!» Dann kullerten ihm Tränen über sein runzliges Gesicht, welches ein mächtiger Schnauz zierte.

Emil, sein Dorfname war übrigens der «Gehnur-Emil», weil sein Vater oder auch sein Grossvater, so genau weiss ich das nicht mehr, sich öfters mal im Ehekrieg mit seiner Frau befand. Sie war übrigens Französin und wuchs in Paris auf.

Wenn die Wogen wieder mal so richtig hochgingen, meinte die Frau mit welschem Akzent jeweils schnippisch, dass sie ausziehen und wieder nach Paris gehen werde. Er werde dann schon sehen, wie er ohne sie zurechtkomme. Doch er erwiderte ihr stets: «Geh‘ nur, du wirst bald wieder zurückkommen. Du kannst ja nicht mal Kaffee kochen!»

So also vererbte sich das «Geh‘ nur» auch auf unseren Emil.

Gehnur-Emil auf der Au (v.l.n.r. Ballmer Walter, Gehnur-Emil, Althuus Kari)

Emil war der Liebling der Oberdörfer Kinder. Er verteilte uns jeweils seine «Brikettli», die er immer in seinem Hosensack mitführte. Ganz hygienisch im heutigen Verständnis waren diese «Brikettli» natürlich nicht. Das machte uns jedoch nichts aus. Möglicherweise stärkten diese «Brikettli» von Emil sogar zusätzlich unser Immunsystem.

Emil pflegte noch eine weitere liebenswürdige Eigenschaft. Er holte sich seine Zeitung beim Rudin-Posthalter pünktlich wie ein Uhrwerk ab. Damals wurden die Basellandschaftliche Zeitung sowie der Landschäftler immer ab halb Zwölf bei der Post im Aussenschalter aufgelegt. Der aufmerksame Beobachter konnte leicht feststellen, welche politische Ausrichtung der jeweilige Zeitungsleser hatte: Bürgerlich (Basellandschaftliche Zeitung), moderat links (Landschäftler).

Emil sass dann immer bis nach 12 Uhr auf dem Bänkli aus Granitplatten, beschaute sich in bedächtiger Ruhe das muntere Kommen und Gehen und wünschte allen: «E Guete, gäll».

Doch leider wurde unser Emil etwas «posslig», wie die Oberdörfer munkelten. Ihm sei der «Käse weich geworden», liessen die ewigen Spötter verlauten. Ja, der Emil wurde leider dement. Er wohnte jedoch immer noch in seiner Wohnung und seine Nachbarn schauten regelmässig zu ihm.

Auf seinen täglichen Spaziergängen wusste er dann meistens nicht mehr, wo sein Zuhause ist. Zum Glück fand sich immer jemand, der ihn nach Hause begleitete. So auch wir, wie ich es bereits angedeutet habe.

Wir nahmen ihn in die Mitte und führten ihn behutsam zu seiner Wohnung. Seine Wohnungstür war sperrangelweit offen. Die Kälte drang in seine gute Stube und der Holzofen war ungeheizt.

«Was sollen wir nur machen? Da holt sich doch der Emil eine schwere Erkältung. Er ist ja schon draussen halb erfroren gewesen,» fragte ich Elsbeth. «Ich hole seinen Nachbarn, den «Friedli-Joggi-Max», der soll den Ofen gut einheizen.» Elsbeth hatte schon immer bodenständige Lösungen parat.

So geschah es dann auch. Und der «Friedli-Joggi-Max» braute ihm noch einen wärmenden Tee und zog ihm einen warmen Pullover über.

Emil schaute uns dankbar an, schlürfte genüsslich seinen Tee und wünschte uns: «E Guete, gäll». Ja, auch sein Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen.

Jetzt machten wir uns aber auf, um die begehrten Mohrenköpfe beim «Cheesi-Heiri» zu holen. Doch zu unserem Entsetzen hatte er nur noch zwei auf Lager. Wir schauten uns mit langen Gesichtern an, denn wir vermuteten, dass der «Chrättli-Fritz» kaum auf seine geliebten Mohrenköpfe verzichten würde.

Bedrückt marschierten wir zurück in die Eimatt und übergaben dem «Chrättli-Fritz» die beiden Mohrenköpfe samt Herausgeld.

«Hat der «Cheesi-Heiri» wieder mal vergessen, Mohrenköpfe zu bestellen? Ach was, da habt ihr die beiden Mohrenköpfe. Ihr habt sie redlich verdient.»

Zu unserem grossen Erstaunen händigte er sie uns aus. Wir bedankten uns überschwänglich und die nächste Viertelstunde verbrachten wir wie im Himmel: Im Mohrenkopf-Himmel!

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