Die sog. Volkskultur führt immer wieder zu einiger begrifflichen Verwirrung. Schon viele haben sich darin versucht, eine Definition von Volkskultur zu kreieren. So gibt es unzählige Definitionen darüber – streng wissenschaftliche wie auch gutgemeinte.

Die einen bezeichnen das Verbandsjodeln als wichtigen Teil der Schweizer Volkskultur. Andere wiederum pochen vehement darauf, dass das Trachtenwesen massgeblicher Teil der Volkskultur sei.

Dann liest und hört man wieder, dass es eine eigentliche Schweizer Volkskultur gar nicht geben kann, weil eine echte Volkskultur sich nur regional ausdrücken könne.

Die Wissenschaft ihrerseits bekundet grosse Mühe mit dem Begriff Volkskultur und weist mit Berechtigung darauf hin, dass im letzten Jahrhundert einesteils eine zerstörerische Ideologie diesen Begriff vereinnahmte und andererseits der Begriff «Volk» zu ungenau sei.

Kulturhistoriker*innen im deutschsprachigen Raum bevorzugen deshalb heute gerne den Ausdruck «Alltagskultur», wobei in diese Schublade alles irgendwie eingeordnet werden kann – also beliebig wird.

Sogar der (ehemalige) Direktor von Pro Helvetia (Schweizer Kulturstiftung) liess sich zu einer Definition von Volkskultur hinreissen (Jakob Hofstetter, Was lange währt, wird Volkskultur, Wochen-Zeitung für das Emmental und Entlebuch, 30. März 2006). Er meinte, dass Volkskultur an eine bestimmte Laufzeit gebunden sein müsse – eine entsprechende kulturelle Betätigung sollte nach seiner Aussage mindestens 100 Jahre alt sein, um als Volkskultur zu gelten.

Was ist jetzt mit der (schweizerischen) Ländlermusik? Diesen Begriff gibt’s bekanntlich erst seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts.

Dass dieser Begriff jedoch durchaus seine Berechtigung hat, möchte ich mit einem kleinen geografischen Ausflug in die USA belegen. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sprechen die Ethnologen einfach von «Folklife bzw. Folklore». Zusätzlich bauen sie zwei weitere Begriffsarten von Kultur auf: Elitärkultur und Populärkultur und untersuchen, wie und unter welchen Umständen hier Wissen und Fertigkeiten erlernt bzw. vermittelt werden. So können sie dann eindeutige Zuordnungen der verschiedensten kulturellen Ausdrucksformen machen.

  • Elitärkultur: wird schriftlich vermittelt und nach festgelegten Kriterien gelernt. Umfasst also Dinge, die wir formal lernen – z.B. aus Büchern und in der Schule.
  • Populärkultur: wird medial vermittelt und durch Nachahmung gelernt. Umfasst also Dinge, die wir durch die Medien (Radio, TV, Plattenspieler/iPod, Internet etc.) lernen.
  • Volkskultur: sie wird mündlich weitergegeben (Fachausdruck: oral traditions) und durch Ausprobieren gelernt und ergänzend und ausschmückend zum Eigenen gemacht. Umfasst also Dinge, die wir von unserer unmittelbaren Umgebung (Familie, Gruppe, Gemeinschaft etc.) lernen.

Das tönt doch wirklich interessant. Gelüstet es uns da nicht geradezu, verschiedene volkskulturelle Sparten nach diesem Modell zu untersuchen?

Beispiel Jodellied: Diese Jodellieder wurden und werden nach strengen kompositorischen Regeln geschaffen. Nach unserem neuen Deutungsmodell wäre also das Verbandsjodeln – davon ausgenommen der Naturjodel, welcher aufgrund seiner mündlichen Überlieferung der Volkskultur zugeordnet werden kann – also Elitärkultur und nicht Volkskultur!

Dann noch der sog. «volkstümliche Schlager»: Eindeutig Populärkultur, weil er medial via Fernseher seine Verbreitung und Nachahmer*innen gefunden hat. Machen Sie für sich einfach weiter und staunen Sie über Ihre eigenen Erkenntnisse.

Weiten Sie das Gebiet der Kultur aus – zum Beispiel auf Architektur, Heilkunde, Kunst etc.

Eine Journalistin der NZZ (Gabriela Schöb, NZZ, 2. April 2003) hat in einem Artikel über den Volksmusiker Rees Gwerder (1911-1998) den Charakter der Volkskultur m.E. genaustens getroffen:

«… Alles, was er gelernt hat, lernte er von älteren Schwyzerörgeli-Spielern. Mit jenen, die er später unterrichtet hat, hielt er es ebenso: zuhören – nachmachen. So lernte er sein Repertoire von Tänzen, die er von andern hörte und spielend, ergänzend und ausschmückend zu den seinen machte. Damit hat er ein beachtliches Repertoire aus dem 19. Jahrhundert «gerettet», nicht konservierend, sondern weiterentwickelnd, und so hat er es, zusammen mit seinen eigenen Stücken, wiederum weitergegeben an seine Schüler, die hoffentlich ähnlich frei und musikalisch damit umgehen werden …»

Diesen Beitrag habe ich anlässlich des von Pro Helvetia initiierten Programms «echo -Volkskultur zwischen Tradition und Innovation» (2006–2008) geschrieben.

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