In der stimmungsvollen Dämmerung des Novembers, wenn der Wind um die Hausecken pfeift, laden die zunehmend länger werdenden Abende zu künstlerischer Betätigung ein. In der wärmenden Geborgenheit des Heims kann man sich der Kunst des Scherenschnitts widmen – jener feinen Handwerkskunst, die mit Schere und Papier, vielleicht im Kreise der Familie oder mit den Nachbarn, zu faszinierenden Kreationen führt.

Scherenschnitte am Küchentisch

Ich erinnere mich, wie wir uns als Kinder in diesen Novembertagen um den Küchentisch versammelt haben. Die Heizung knisterte im Hintergrund, und die warme Luft mischte sich mit dem Duft von frischem Papier. Unsere Mutter breitete farbiges Papier aus, und wir wählten mit glänzenden Augen unsere Lieblingsfarben. Dann ging es los: Wir schnitten Schneeflocken, Tiere und Märchenfiguren aus, jeder Schnitt eine Übung in Geduld und Präzision. Es war eine magische Zeit, in der unsere kleinen Finger lernten, mit der Schere umzugehen, während unsere Phantasie mit jedem Schnitt mehr Gestalt annahm. Diese liebevoll gestalteten Werke dienten schliesslich als ganz persönliche Weihnachtsgeschenke, die wir mit stolz geschwellter Brust unseren Eltern oder Gotte und Götti überreichten.

Geschichtliche Wurzeln des Scherenschnitts

Der Scherenschnitt hat eine reiche und vielfältige Geschichte, die sich über verschiedene Kulturen und Kontinente erstreckt. Die Ursprünge dieser Technik lassen sich bis in das alte China zurückverfolgen, wo sie kurz nach der Erfindung des Papiers durch Cai Lun im 2. Jahrhundert n. Chr. entstand. Dies war eine natürliche Entwicklung, da China bereits eine lange Tradition in der Papierherstellung und -verwendung hatte.

Während des 6. Jahrhunderts breitete sich diese Kunstform entlang der Seidenstrasse aus, die als kulturelle und handelspolitische Verbindung zwischen Ostasien und dem Mittelmeerraum diente. Im Nahen Osten angekommen, fand der Scherenschnitt Eingang in die traditionellen Schattenspieltheater, die dort eine lange Tradition hatten. Durch die Handelskontakte und kulturellen Wechselwirkungen gelangte die Kunstform im Laufe der Jahrhunderte auch nach Europa, insbesondere in den Mittelmeerraum und Mitteleuropa.

Ab dem 17. Jahrhundert, im Zuge der erhöhten Faszination für orientalische Kulturen, erlebte der Scherenschnitt dort eine rasante Popularität und wurde in die europäische Schattenspieltheaterkunst integriert. Diese Theater, die mit ausgeschnittenen Figuren und Szenen aus Papier Schattenbilder an die Wand warfen, beeinflussten nicht nur die europäische Unterhaltungskultur, sondern wurden auch zu einer inspirierenden Kraft für die bildende Kunst.

In der Schweiz erfuhr der Scherenschnitt eine besondere Verehrung als volkstümliche Kunstform, die idyllische Alpenpanoramen, heimische Fauna und Szenen des ländlichen Alltags illustrierte – ein Schmuck für die Behausungen und ein geschätztes Andenken für Besucher. Ein Name ragt in der Geschichte des Schweizer Scherenschnitts heraus:

Johann Jakob Hauswirth: Ein Pionier des Schweizer Scherenschnitts

Typischer Scherenschnitt von J.J. Hauswirth

Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich in der Schweiz ein eigener, wenn auch regional unterschiedlicher, typischer Scherenschnittstil entwickelt. Besonders geprägt wurde dieser Stil durch Johann Jakob Hauswirth, welcher 1809 in Saanen geboren wurde und 1871 in der Nähe von L’Etivaz verstorben ist.

Hauswirth war ein Künstler, über den man nichts oder fast nichts Genaues weiss. Wie man vermutet, ist er im Simmental (Garstatt) aufgewachsen und lebte später auch im Pays-d’Enhaut.

Als Taglöhner ging er von Bauernhof zu Bauernhof oder arbeitete auch als Köhler in den Wäldern von «Rodomont» (Grossenberg) über Rougemont. Er erschien und fragte nach einer Unterkunft für die Nacht und als Dankeschön schenkte er jeweils seinen Gastgebern ein ausgeschnittenes Bildchen, welches oftmals als Buchzeichen im Gebetsbuch oder in der Bibel gebraucht wurde.

Hauswirth’s Erfindungsgeist und Entdeckungslust waren sehr gross und er schuf auch sehr viele farbige Scherenschnitte. Schon früh verliess er die traditionelle Symmetrie um freier gestalten zu können. Trotzdem blieben die Kunstwerke sehr ausgewogen und nur ein geübter Beobachter konnte auf Anhieb erkennen, dass es sich nicht um rein symmetrische Bilder handelt. Unübersehbar und für Hauswirth sehr typisch sind die zahlreichen Darstellungen von Pforten und Toren – man ist versucht, diese Darstellungen als Symbol seiner Werke zu sehen.

Die Zukunft des Scherenschnitts

Heute wird der Scherenschnitt sowohl in traditionellen als auch in modernen Kunstkontexten geschätzt. Künstlerinnen und Künstler auf der ganzen Welt experimentieren mit dieser Technik und erweitern ihre Grenzen, indem sie neue Materialien einbeziehen und sie mit anderen Kunstformen kombinieren. Der Scherenschnitt bleibt eine lebendige und dynamische Kunstform, die trotz ihrer jahrhundertealten Tradition immer wieder neu erfunden wird.

Die Zahl der Künstlerinnen und Künstler, die es verstehen, mit Schere und Papier umzugehen, hat sich vervielfacht. Der traditionelle Bauernscherenschnitt wird heute jedoch mehr und mehr zurückgedrängt. Zeitaktuelle Themen oder auch die Märchenwelt werden vermehrt ins Papier geschnitten. Immer besseres technisches Material hat den Scherenschnitt verfeinert. Doch es ist die Begabung, die unermüdliche Formerfindung und Gestaltungskraft, die auch die Künstlerin und den Künstler von heute auszeichnen.

P.S. Die Schweizer Scherenschnittkünstler/innen sind international anerkannt und ihre Werke, wie die von Ernst Oppliger, finden sich sogar im renommierten Cooper Hewitt National Design Museum in New York.

 

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