Der Traum vom Fliegen, frei wie ein Vogel, beschäftigt die Menschheit seit jeher. Lange bevor es Flugzeuge, Heissluftballons oder Paraglider gab, träumten unsere Vorfahren von diesem Gefühl der Freiheit.

Doch sie mussten nicht nur träumen – sie hatten ihre eigenen Mittel, um der Realität zu entfliehen: die «Flugsalben» aus heimischen Kräutern. Tauchen wir also ein in die geheimnisvolle Welt der Nachtschattengewächse und ihrer magischen, aber auch gefährlichen Wirkungen.

Unsere Nachtschattengewächse

Bekannte Nahrungspflanzen wie Kartoffel, Tomate, Aubergine und Paprika gehören zur Familie der Nachtschattengewächse. Doch neben diesen Delikatessen gibt es auch zahlreiche Giftpflanzen in dieser Familie: Tabak, Alraune, Bilsenkraut, Stechapfel und die berüchtigte Tollkirsche. Der Begriff «Nachtschatten» könnte als Synonym für Albträume verstanden werden, die laut germanischer Mythologie durch das Wirken böser Alben verursacht wurden. Diese Alben, später Elfen oder Elben genannt, waren nicht immer die lieblichen Wesen, die wir aus Märchen kennen. Einige von ihnen brachten Dunkelheit und Schrecken über die Menschen.

Um sich vor diesen dunklen Mächten zu schützen und Albträume zu bannen, nutzten unsere Vorfahren die berauschenden Inhaltsstoffe der Nachtschattengewächse. Besonders die Tollkirsche (Atropa belladonna) war für ihre starke Wirkung bekannt. Diese bis zu 1,5 Meter hohe Staude, die an Wegrändern und Lichtungen wächst, wurde bereits von den Römerinnen genutzt. Sie verwendeten den rötlichen Fruchtsaft als Rouge und zur Pupillenerweiterung. Doch die verlockend aussehenden schwarzen Früchte sind hochgiftig und können, wenn sie nicht gleich tödlich sind, zu extremen Rauschzuständen führen. Das Wort «toll» bedeutet hier noch «närrisch» oder «verrückt».

Die magischen Salben

Knapp unter der tödlichen Dosis verursachen die Gifte der Nachtschattengewächse Rauschzustände, die von Visionen, einschliesslich des Fliegens, festlichen Gelagen, Tanz und körperlicher Liebe begleitet werden. Diese Visionen erschienen den Betroffenen oft als real, während sie für Aussenstehende nur «toll» wirkten. Im Mittelalter waren die Wirkstoffe dieser Pflanzen, meist in Form von Salben, das Rauschmittel der armen Leute. Später wurden diese Visionen als teuflisch angesehen und die berauschenden Salben als Hexenwerk abgetan. Goethe wusste dies und liess Dr. Faust in der Walpurgisnacht eine Hexenorgie erleben.

Von der Magie zur Verfolgung

Viele heilkundige Frauen, die um die Wirkungen dieser Kräuter wussten, wurden in finsteren Zeiten als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Vorstellung von Hexen, die auf ihren Besen fliegen, stammt vermutlich von diesen berauschenden «Flugsalben». Interessanterweise wurden diese Stoffe auch dem Bier beigemischt, um in schlechten Erntejahren den Alkoholgehalt zu erhöhen. Die Stadt Pilsen in der heutigen Tschechischen Republik baute grosse Mengen Bilsenkraut an, was dem Pilsbier seinen Namen gab.

Eine Warnung zum Schluss

Vor der todbringenden Tollkirsche und ihren Verwandten sei gewarnt. Ihr wissenschaftlicher Name Atropa erinnert an Atropos, eine der drei Schicksalsgöttinnen der antiken Mythologie, die den Lebensfaden zerschneidet. So mag der Traum vom Fliegen verlockend sein, doch die Nachtschattengewächse zeigen uns, dass dieser Traum schnell in einen Albtraum umschlagen kann.

 

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