Weihnachten im Felde

Es war die Zeit des Ersten Weltkriegs, und wie so viele Männer wurde auch mein Grossvater aus der Hinteren Gasse an die Grenze gerufen, um das Land zu schützen.

Damals lag ein Hauch von Weihnachten in der Luft. In den Häusern von Oberdorf wurden heimlich kleine Geschenke vorbereitet, um den Kindern eine Freude zu bereiten. Die Menschen schmückten ihre Stuben mit Tannenzweigen und Kerzen, und trotz der Sorgen und Unsicherheiten des Krieges versuchten sie, den Zauber der kommenden Festtage zu bewahren.

Doch für manche brachte der Dezember nicht nur Kerzenschein und Tannenduft, sondern auch den Ruf der Pflicht. So war es bei meinem Grossvater. Eines Abends, als er sich gerade nach getaner Arbeit in seinen Sessel setzen wollte, fand er im Briefkasten ein graues Kuvert mit der Aufschrift «Militärsache». Einberufungsbefehl. Schon zum dritten Mal in diesem Jahr wurde er an die Grenze beordert, um das Land zu schützen. Ein Aufgebot – das war seine weihnächtliche «Bescherung».

«Heil dir, Helvetia! So etwas muss natürlich mir passieren! Immer ich! Schon das dritte Mal dieses Jahr!» fluchte er vor sich hin. «Und der Seppli Drückerli von nebenan liegt das ganze Jahr auf der faulen Haut, und der Schaggi von der anderen Seite ist gerade mal einmal eingerückt!»

Ein paar Tage später, an einem nebligen Morgen, machte er sich mit weiteren Kameraden auf den Weg. Die Stimmung war gedrückt. Niemand wusste, wie lange der Einsatz dauern würde oder wo genau sie Weihnachten verbringen würden. Der Gedanke an die Familie, die Braut, die Geschwister, die zu Hause blieben, machte es nicht leichter. Doch so war es nun einmal. Die Pflicht rief.

An der Grenze angekommen, fanden sie sich in einem kleinen Wachlokal wieder, ein einfacher Holzbau, notdürftig eingerichtet. Es bot kaum Schutz vor der eisigen Kälte, die durch jede Ritze drang. Die Männer wärmten sich so gut es ging am kleinen Ofen, der in einer Ecke stand. Jeder war in Gedanken versunken. Mein Grossvater dachte an seine Familie in Oberdorf, daran, wie sie jetzt wohl den Weihnachtsbaum schmückten und die Kerzen anzündeten.

Am Abend, während mein Grossvater auf seinem Posten stand, hörte er plötzlich Schritte im Schnee. Die ungewohnten Geräusche liessen ihn aufhorchen. In der Dunkelheit erkannte er undeutliche Silhouetten, die sich langsam der Grenze näherten. Sofort rief er seine Kameraden zur Verstärkung, und gemeinsam machten sie sich mit wachsamem Blick auf den Weg, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Bald wurde klar, dass es sich nicht um feindliche Soldaten handelte. Vor ihnen standen ein alter Mann, eine Frau und zwei Kinder. Ihre Kleidung war zerschlissen, ihre Gesichter gezeichnet von Kälte und Erschöpfung. «Bitte, helft uns», flehte der Mann. «Wir haben alles verloren.»

Die Soldaten zögerten nicht lange. Sie führten die Flüchtlinge ins Wachlokal, wo der Ofen ein wenig Wärme bot. Wolldecken wurden verteilt, und einer der Männer reichte Brot und Tee. Die Kinder klammerten sich an ihre Mutter, doch langsam wich die Angst aus ihren Augen.

In einer Ecke des Raumes stand ein kleiner Weihnachtsbaum, geschmückt mit Kerzenstummeln und ein paar Süssigkeiten, die die Soldaten untereinander geteilt hatten. Einer holte seine Mundharmonika hervor und begann, «Stille Nacht» zu spielen. Die Flüchtlinge, zunächst stumm vor Erschöpfung, stimmten langsam ein. Selbst die hartgesottenen Soldaten wurden von der Feierlichkeit des Moments ergriffen.

Mein Grossvater erzählte später, dass dieser Moment für ihn eine besondere Bedeutung hatte. Er sah, wie das Licht der Kerzen auf die müden Gesichter der Flüchtlinge fiel, und spürte eine tiefe Dankbarkeit. «Inmitten dieses Krieges», sagte er, «gab es einen Augenblick des Friedens, der zeigte, was Weihnachten wirklich bedeutet.»

Die Nacht verging, und die Flüchtlinge schliefen schliesslich erschöpft ein, während die Soldaten Wache hielten. Mein Grossvater zog sich in eine Ecke zurück und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht. «Es war vielleicht nicht das Weihnachten, das ich mir erträumt hatte», sagte er, «aber es war das bedeutsamste Weihnachtsfest meines Lebens.»

Diese Geschichte erinnert uns daran, dass selbst in den dunkelsten Zeiten ein Funke von Menschlichkeit und Mitgefühl Licht in die Welt bringen kann. Mein Grossvater hat diesen Moment nie vergessen, und jedes Jahr zur Weihnachtszeit erzählte er sie uns, als Erinnerung daran, dass der wahre Geist von Weihnachten in unseren Herzen beginnt.

 

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Über

Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

FOLGEN

NEWSLETTER

BodeständiX
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.