Der Begriff «Volkskultur» hat seine Wurzeln im 18. und 19. Jahrhundert, einer Zeit des aufkommenden Nationalbewusstseins in Europa.

In dieser Epoche erlebte Europa tiefgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen, wie die Industrialisierung und die Urbanisierung, die die traditionelle ländliche Lebensweise bedrohten. Vor diesem Hintergrund begannen Intellektuelle, Dichter und Nationalisten, das «Volk» als Träger einer authentischen Kultur zu idealisieren – einer Kultur, die als unverfälscht und ursprünglich galt und im Gegensatz zur als dekadent empfundenen städtischen Kultur stand.

Diese «Volkskultur» wurde häufig mit der bäuerlichen Lebensweise, der Mundart, dem Volkslied, Volkstanz und anderen Formen des kulturellen Ausdrucks, die in ländlichen Gemeinschaften gepflegt wurden, gleichgesetzt. Der Begriff diente nicht nur der kulturellen Abgrenzung, sondern wurde auch politisch instrumentalisiert, um nationale Identitäten zu stärken.

Interessanterweise war der Begriff «Volkskultur» von Anfang an von einer gewissen Exklusivität geprägt. Er reflektierte die Vorstellungen und Projektionen der städtischen Elite über das «einfache» Leben auf dem Land, während die eigentlichen Träger dieser Kultur, die Bauern und Landbewohner, oft keine Stimme im Diskurs über ihre eigene Kultur hatten. Diese Diskrepanz hat dazu geführt, dass viele kulturelle Ausdrucksformen, die nicht in das Idealbild der «Volkskultur» passten, ausgeklammert oder als minderwertig betrachtet wurden.

Landschaft und Herkunft als Prägungsfaktoren von Traditionen

Die Landschaft, in der eine Gemeinschaft lebt, spielt eine entscheidende Rolle in der Formung ihrer kulturellen Identität und Traditionen. Historisch gesehen hat die Topografie einer Region, sei es das Gebirge, die Ebene, der Fluss oder die Küste, den Lebensstil, die Wirtschaft, die sozialen Strukturen und damit auch die kulturellen Ausdrucksformen beeinflusst.

Zum Beispiel hatten die Alpenregionen in der Schweiz nicht nur eine isolierende Wirkung auf ihre Bewohner, sondern auch eine stark prägende auf deren Kultur. Die alpine Volksmusik, die althergebrachten Trachten und Bräuche, die eng mit der Viehwirtschaft und dem Rhythmus der Jahreszeiten verbunden sind, zeugen von dieser tiefen Verbindung zur Berglandschaft. Die Abgeschiedenheit dieser Gebiete führte zu einer Bewahrung vieler alter Traditionen, die anderswo durch äussere Einflüsse bereits verändert worden waren.

Anders verhält es sich in Regionen mit Handelsrouten oder fruchtbaren Böden, wo der Austausch mit anderen Kulturen intensiver war. Diese Regionen haben oft eine dynamischere kulturelle Entwicklung erlebt, da sie einem stetigen Fluss neuer Ideen und Einflüsse ausgesetzt waren. So entstand in solchen Gebieten eine «Volkskultur», die zwar ihre Wurzeln in der Tradition hatte, aber stets bereit war, neue Elemente aufzunehmen und zu integrieren.

Der Einfluss der Landschaft auf rituelle Praktiken und Glaubenssysteme

Die Prägung der Kultur durch die Landschaft zeigt sich auch in den Glaubenssystemen und rituellen Praktiken vieler indigener Völker. Wie im Beispiel der Tewa-Indianer, die die Natur nicht nur als belebt, sondern auch als Quelle von Musik und spirituellen Kräften ansehen, lassen sich solche Überzeugungen weltweit beobachten. Diese Gemeinschaften entwickeln oft komplexe Systeme von Ritualen, Mythen und Symbolen, die die Naturkräfte in ihre kulturelle Praxis integrieren.

Ein anderes Beispiel sind die keltischen Traditionen in Europa, die stark von der Landschaft beeinflusst waren. Die Kelten verehrten heilige Haine, Flüsse und Berge, und viele ihrer Feste und Rituale waren eng mit dem natürlichen Jahreszyklus verbunden. Diese Verbindung zur Natur hat sich in verschiedenen kulturellen Praktiken und Festen erhalten, die zum Teil bis heute in abgewandelter Form fortbestehen.

Der Wandel der Traditionen im modernen Kontext

In der modernen Welt sind diese traditionellen Kulturen nicht statisch geblieben, sondern haben sich kontinuierlich weiterentwickelt. Wie im Fall des Berner Mundartrocks und des Mundart-Hip-Hops haben sich auch andere kulturelle Ausdrucksformen an die modernen Lebensbedingungen angepasst. Dies zeigt, dass Traditionen nicht einfach nur konserviert werden, sondern ein lebendiger Prozess sind, der neue Einflüsse aufnimmt und in die bestehende kulturelle Matrix integriert.

Die Fähigkeit von Traditionen, sich zu wandeln und gleichzeitig ihre Kernidentität zu bewahren, ist entscheidend für das Fortbestehen einer Kultur. Sie ermöglicht es den Gemeinschaften, ihre Wurzeln zu bewahren, während sie sich an neue Herausforderungen und Gegebenheiten anpassen. Dadurch bleibt die Kultur lebendig und relevant für die gegenwärtige Generation.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Beziehung zwischen Kultur und Natur sowie zwischen Herkunft und Tradition ist komplex und tief verwurzelt in der Geschichte. Der historische Kontext zeigt, wie kulturelle Traditionen sowohl von der geografischen Umgebung als auch von den sozialen und politischen Entwicklungen geprägt wurden. Indem wir diese Zusammenhänge verstehen, können wir die Vielfalt und Dynamik der Kulturen besser schätzen und die Bedeutung der Traditionen in der modernen Welt erkennen. Die Integration moderner Ausdrucksformen wie Mundartrock und Hip-Hop in das Spektrum der «Volkskultur» zeigt, dass Traditionen lebendig bleiben, indem sie sich verändern und anpassen, und nicht, indem sie konserviert werden. Dies ist der Schlüssel zum Verständnis der Kultur als etwas, das ständig im Fluss ist, geprägt von seiner Umgebung und den Menschen, die sie tragen.

 

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