Es war einmal eine Frau, die mit ihrem Mann und zwei Söhnen ein beschauliches und ruhiges Leben führte. Nach aussen hin wirkte sie zufrieden und glücklich mit ihrem Schicksal, doch tief in ihrem Inneren trug sie eine Welt voller Gedanken und Gefühle, die niemand kannte – weder ihr Mann noch ihre Freunde oder Nachbarn.
Sie liebte es, über die Schönheit des Mondes und der Sterne nachzudenken, über die zarten Bewegungen des Windes, die Farbenpracht der Blumen, den Klang von Geigen oder die Anmut griechischer Statuen. Sie fühlte Ehrfurcht vor Gott und erinnerte sich sehnsüchtig an die romantischen Momente ihrer ersten Liebe, die längst in einen geregelten Alltag übergegangen war. Aber sie dachte auch über die grossen Fragen nach – über Krieg und Politik, über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft und über ihr eigenes Leben. Ihre Gedanken waren eigenständig, oft rebellisch, doch niemand bekam davon etwas mit. Es war nicht Angst vor Missverständnissen, die sie davon abhielt, ihre Gefühle zu teilen. Vielmehr fehlten ihr die Worte, um auszudrücken, was in ihrem Inneren tobte. Keine Verse entstanden, kein Lied floss aus ihrer Kehle, und ihre Worte blieben stets alltäglich.
Doch eines Tages taten ihre Hände etwas, das alles andere als alltäglich war: Sie rettete ein Kind, das in den reissenden Mühlebach gefallen war. Dabei riskierte sie ihr eigenes Leben. Retterin und Kind lagen bewusstlos am Ufer, bis Passanten sie entdeckten und ins Leben zurückholten. Für die nächsten Tage wurde die junge Frau zur Heldin der kleinen Stadt, doch all der Ruhm bedeutete ihr wenig.
In der Nacht nach der Rettung hatte sie einen merkwürdigen Traum. Ein Engel erschien an ihrem Bett. Er trug ein weisses, wallendes Gewand und blickte sie mit gütigen Augen an. «Ich bin der Schutzengel des Kindes», sagte er. «Ich danke dir, dass du es gerettet hast. Gestern konnte ich es nicht beschützen, weil einer meiner Flügel durch einen Blitz beschädigt wurde und ich ihn erst reparieren lassen musste. Als Zeichen meiner Dankbarkeit möchte ich dir einen grossen Wunsch erfüllen.»
Die Frau dachte nach. Gerade wollte sie antworten, da hörte sie aus dem Nebenzimmer die leisen, weinenden Töne eines ihrer Söhne im Schlaf. Sofort vergass sie alle Gedanken an sich selbst. Sie faltete die Hände und bat: «Schenke meinen Kindern, was mir verwehrt bleibt. Gib ihnen die Fähigkeit, all das, was ihr Herz erfüllt, in Worte zu fassen. Lass sie andere Menschen glücklich machen und mit ihren Worten Gottes Güte preisen.»
Der Engel lächelte. «Ich werde dein Anliegen dem lieben Gott vortragen. Du wirst an deinen Kindern grosse Freude haben.» Mit diesen Worten verschwand er, und das Zimmer erstrahlte in hellem Licht. Die Frau wachte auf, erfüllt von einem unbeschreiblich festlichen Gefühl.
Die Jahre vergingen, und die beiden Söhne wuchsen zu stattlichen jungen Männern heran. Peter, der ältere, ernsthafte und tiefgründige Sohn, wurde Priester. Seine Predigten rührten die Herzen der Gläubigen, und niemand zelebrierte die Messe so ergreifend wie er. Paul, der jüngere Sohn, war das Gegenteil: ein sonniges Gemüt, ein Strahlen in Person. Er wurde Schauspieler und begeisterte das Publikum mit seiner klaren Stimme und seinem unwiderstehlichen Charme – vor allem die Frauen, die in ihm den Helden ihrer Träume sahen.
Die Eltern waren stolz auf ihre Söhne. Sie vergossen Tränen der Rührung in der Kirche und Freudentränen im Theater. Doch ein Schatten lag über ihrem Glück: Die beiden Brüder verstanden sich nicht. Ihre unterschiedlichen Berufe und Lebensansichten hatten das Band der Kindheit zerrissen. Obwohl sie in allem anderen so mitfühlend und verständnisvoll waren, mieden sie einander. Nur ihrer Mutter zuliebe vermieden sie offene Streitigkeiten.
Eines Tages wurde die Mutter schwer krank. Der Arzt sah kaum Hoffnung, und die Söhne wichen nicht von ihrer Seite. Doch selbst am Sterbebett schafften sie es nicht, einander zu begegnen. Jeder besuchte sie allein, während die Mutter apathisch mit geschlossenen Augen dalag. Im Herzen bereuten beide Brüder die Entfremdung, doch keiner wagte den ersten Schritt zur Versöhnung.
Am entscheidenden Sonntag, als die letzte Hoffnung auf Genesung auf dem Spiel stand, wanderte Paul ruhelos durch die Strassen der kleinen Stadt. Seine Gedanken waren ein chaotisches Durcheinander aus Sorge um die Mutter, Bitterkeit über den Bruch mit seinem Bruder und einer tiefen Sehnsucht nach Frieden. Er wusste selbst nicht, wohin er ging, bis er plötzlich vor der Tür der Kirche stand, in der sein Bruder predigte. Zögernd trat er ein. Die kühlen Steinwände und das gedämpfte Licht der Buntglasfenster hüllten ihn ein, und ein Gefühl von Ruhe, wie er es lange nicht mehr empfunden hatte, senkte sich über ihn. Die Glocken schlugen zehn Uhr, und Paul blickte nach vorne. Da stand Peter, sein Bruder, im priesterlichen Gewand auf der Kanzel.
Peter sprach mit einer Wärme und Güte, die Paul tief berührte. Er predigte von der Allmacht Gottes, der unendlichen Schönheit seiner Schöpfung und der Weisheit seiner Wege, denen die Menschen vertrauen sollten – auch in schwersten Zeiten. Noch nie hatte Paul seinen Bruder so klar, so ergreifend reden hören. Jedes Wort schien direkt in sein Herz zu dringen. Als Peter davon sprach, dass es in Gottes Augen immer einen Weg zur Versöhnung gebe, fühlte Paul, wie sich eine Last von seiner Seele löste. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch er unterdrückte sie und lauschte weiter, wie gebannt von der Stimme seines Bruders. Ein Gedanke nahm in ihm Gestalt an: Vielleicht war es noch nicht zu spät, sich zu versöhnen.
Am Abend geschah dann das Unfassbare: Die Mutter, die den ganzen Tag über schwach und ohne Bewusstsein gewesen war, erholte sich plötzlich. Ihre Atmung wurde ruhiger, ihre Augen öffneten sich, und sie blickte ihre beiden Söhne an. Der Arzt, der sie längst aufgegeben hatte, war sprachlos. Paul und Peter standen am Krankenbett, beide von der unerwarteten Wendung überwältigt. Ein Moment der Stille entstand, und dann, ohne dass jemand ein Wort sagte, reichten sich die Brüder die Hand. Sie sahen sich an, zögernd erst, dann mit einem langen Blick, der all die unausgesprochenen Worte und Verletzungen der letzten Jahre in sich aufzunehmen schien. Schliesslich umarmten sie sich – eine Geste, die nichts mehr mit den alten Differenzen zu tun hatte, sondern nur noch mit Liebe und Vergebung.
Die Mutter, die das Geschehen mit einem schwachen, aber klaren Blick verfolgt hatte, lächelte. Ihre Stimme war leise, aber fest, als sie sagte: «Endlich seid ihr wieder vereint.» In diesem Moment schien eine tiefe Ruhe in das Zimmer einzuziehen, als ob die Zeit selbst innehielt. Die Brüder knieten sich neben das Bett und hielten die Hände ihrer Mutter, die plötzlich mit einer Zuversicht sprach, die sie in den letzten Tagen nicht mehr gehabt hatte: «Ich werde wieder gesund. Gott hat mir euch beide zurückgegeben.»
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