Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, müssten viele von uns zugeben, dass wir oft in Tagträumen versinken.
Es gibt Momente in unserem Leben – egal, wie beschäftigt oder glücklich wir auch sein mögen –, in denen wir uns in eine andere Welt hineinträumen, sei es beim Warten in einem Café, beim Spazierengehen oder während wir still in der Eisenbahn sitzen. In diesen Augenblicken erzählen wir uns selbst Geschichten, in denen wir Heldentaten vollbringen, unsere Mitmenschen beeindrucken und übertreffen. Wir sehen uns stärker, klüger und charismatischer. Vielleicht stehen wir vor einem grossen Publikum und fesseln alle durch die blosse Kraft unserer Worte, oder wir sitzen mit berühmten Persönlichkeiten zusammen und ernten Bewunderung für unseren Witz und unsere Weisheit.
Manchmal malen wir uns aus, wie wir die geheimen Gönner von Talenten werden, die niemand sonst erkennt, oder wir gründen erfolgreiche Unternehmen, die die Welt verändern. In schwachen Momenten stellen wir uns sogar vor, wie wir eine Arie von solcher Schönheit singen, dass unser Publikum, das aus lauter Bewunderern besteht, zu Tränen gerührt ist. In diesen Träumen sind wir befreit von allem, was uns im echten Leben zurückhält – wir werden endlich die Menschen, die wir insgeheim immer sein wollten.
Die Menschen, die uns in der Vergangenheit abgewiesen oder übersehen haben, beobachten uns jetzt mit Ehrfurcht. Und wie grosszügig sind wir ihnen gegenüber! Wir lächeln gnädig, schenken ihnen ein freundliches Wort – und dann reisst uns die Realität zurück, wenn die Bahn an unserer Haltestelle hält und wir aussteigen, hinunter von unserer imaginären Höhe in den Alltag.
Ich bin überzeugt, dass es auch im Leben Napoleons Augenblicke gab, wo er in seinem Bad lag, während sein Diener eine Flasche wohlriechende Essenz um die andere in dieses Bad schüttete und Napoleon sich zurücklehnte und sich Geschichten erzählte, in denen er in Wirklichkeit nicht Korse, sondern Bretone war und aus einer sehr alten, vornehmen Familie stammte und 1,90 m gross, sehr schlank und muskulös war und eine grosse Familie mit vier Mädchen und sieben Jungen hatte.
Auch Albert Einstein könnte sich, während er an seinen physikalischen Theorien arbeitete, ausgemalt haben, wie es wäre, nicht mit den abstrakten Rätseln des Universums zu ringen, sondern mit simplen Zutaten in einer ruhigen Küche zu experimentieren, wo alles wohlgeordnet und überschaubar ist. Vielleicht träumte er davon, statt das Geheimnis der Relativität zu entschlüsseln, einfache Rezepte zu perfektionieren, in denen jede Zutat an ihrem Platz war, und die Ergebnisse sofort sichtbar und geniessbar waren – eine Welt, in der die Unsicherheiten des Kosmos keinen Platz hatten
Mir selbst wäre es peinlich, zuzugeben, wie viel Zeit ich mit solchen Träumereien verbringe. In meinen Wunschvorstellungen kehre ich mit unvorstellbarem Reichtum zurück in mein Heimatdorf und beschenke meine Familie und Freunde grosszügig.
Doch mehr als alles andere träume ich davon, den altehrwürdigen, aber inzwischen heruntergekommenen Landgasthof Eidgenossen, das Herzstück des Dorfes, zu erwerben. In meinen Gedanken sehe ich, wie ich es liebevoll restauriere und ihm neuen Glanz verleihe, ohne dabei den Charme der Vergangenheit zu verlieren. Die Fassade erstrahlt wieder, der grosse Saal wird stilvoll eingerichtet, und die Menschen kommen von nah und fern, um die traditionsreiche Atmosphäre zu geniessen.
Ich stelle mir vor, wie das Gasthaus wieder zum Mittelpunkt des Gemeindelebens wird, ein Ort, an dem Erinnerungen wachgerufen und neue Geschichten geschrieben werden. Vielleicht, so träume ich weiter, würde man mich für diese Grosstat in Ehren halten, und mein Name würde für immer mit dem Eidgenossen verbunden bleiben. Doch selbst wenn nicht – die Freude, das Dorf und seine Seele ein Stück weit wiederhergestellt zu haben, wäre schon Lohn genug.
Doch obwohl ich mir in meinen Träumen oft Reichtum und Erfolg wünsche, stelle ich mir selten vor, berühmt zu sein. Jedenfalls nicht so berühmt, dass sich die Leute auf der Strasse nach mir umdrehen oder mich um mein Autogramm bitten. Ruhm, der mir meine Anonymität nehmen würde, erscheint mir eher als Last denn als Segen. Denn ich weiss, dass diese Begegnung für sie am Ende nur eine weitere Illusion zerstören würde – die Vorstellung eines Menschen, den sie bewundern, zerrinnt oft, sobald er in der Realität greifbar wird.
Ich möchte lieber im Hintergrund bleiben, unsichtbar, und nur durch meine Taten in Erinnerung bleiben – durch die Orte, die ich aufgebaut, und die Menschen, denen ich geholfen habe. Es geht mir nicht darum, bewundert zu werden oder im Rampenlicht zu stehen. Was bleibt, ist das Gefühl, etwas Gutes geschaffen zu haben, ohne dabei selbst zur Schau gestellt zu werden. Denn in dieser stillen, zurückhaltenden Erfüllung liegt für mich der wahre Reichtum, weit wertvoller als alles Gold und alle Ehre, die man mir zuteilwerden lassen könnte.
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