Wenn keiner zuschaut – wer bist du dann?

Warum ist das Alleinsein für viele so schwer auszuhalten? Warum fühlen wir uns oft nur dann wertvoll, wenn andere uns sehen, bestätigen, spiegeln?

Die meisten Menschen fühlen sich am wohlsten, wenn sie nicht allein sind.
Nicht, weil sie Gesellschaft so sehr lieben – sondern weil sie sich selbst nicht gut aushalten.

Wenn keiner zuschaut, wird es still.
Und in dieser Stille meldet sich oft etwas, das wir lieber übertönen: Unsicherheit. Scham. Leere. Selbstkritik.
Dann greifen wir zum Handy, zum Fernseher, zur Ablenkung. Hauptsache, nicht in diese Stille hineinrutschen. Hauptsache, nicht das spüren, was da wartet.

Doch was wartet da wirklich?

Nicht ein Monster.
Nicht das Böse.
Sondern: du selbst.
Ungefiltert. Ohne Rolle. Ohne Rückversicherung durch Applaus, Zustimmung oder Feedback.

Und genau das ist es, was so vielen Angst macht:
die Begegnung mit dem eigenen, unverstellten Selbst.

Das beginnt nicht erst im Erwachsenenleben.
Von klein auf lernen wir, uns anzupassen: an Eltern, Lehrer, Normen, Erwartungen.
Wir werden gelobt, wenn wir «brav» sind. Getadelt, wenn wir aus der Reihe tanzen.
So entsteht langsam ein innerer Beobachter – ein Verstand, der ständig beurteilt:

«War das richtig? Genüge ich? Ist das erlaubt?»

Dieser Verstand begleitet uns durchs Leben wie ein innerer Aufpasser. Und selbst wenn niemand da ist – bleibt er aktiv.
Er ist das Echo der Erziehung, der Kultur, der Religion. Und wenn wir alleine sind, flüstert er: «So, wie du jetzt bist, reicht das wirklich?»

Darum fällt es so schwer, allein zu sein.
Nicht, weil es objektiv unangenehm wäre – sondern weil wir uns selbst nur im Spiegel der anderen mögen.

In der Gruppe gibt es Halt: Alle verhalten sich ähnlich, keiner sticht hervor.
Man fühlt sich «normal», sogar «glücklich».
Aber dieses Glück ist zerbrechlich – es hängt davon ab, dass die anderen mitspielen.

Und doch: Alleinsein ist kein Mangel – sondern eine Chance.
Erst wenn niemand zuschaut, kannst du dich von der Rolle befreien.
Dann musst du nichts darstellen. Du musst nicht gefallen. Du darfst einfach sein.

Am Anfang fühlt es sich fremd an. Vielleicht leer.
Aber diese Leere ist nicht leer – sie ist der Anfang von etwas Echtem.

Wenn du bereit bist, einfach nur dazusitzen – ohne Input, ohne Publikum –
dann zeigt sich langsam etwas in dir, das nicht aus Anpassung kommt.
Etwas, das nicht auf Applaus wartet.
Etwas, das wahr ist.

Das braucht Übung. Zeit. Geduld.
Vielleicht sind es anfangs nur drei Minuten am Tag, in denen du bewusst allein bist.
Aber genau dort beginnt der Weg zurück –
nicht zu einem Ideal, sondern zu dir selbst.

Denn wer sich nur unter Menschen «wohlfühlt», hat sich selbst noch nicht kennengelernt.
Wirkliche Freiheit entsteht erst, wenn du allein sein kannst,
ohne einsam zu sein.

Dann brauchst du keine Rolle mehr.
Kein Publikum. Keine Maske.
Dann brauchst du nur noch dich –
und das genügt.

 

2 Kommentare

  1. C Stern

    Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Allein-Sein als Mangel verstanden wird. Gerade gegenwärtig wird wieder großer Druck aufgebaut und einzig ein Familienleben als das Höchsterstrebenswerte verkündet.
    Ja, es braucht Zeit, Übung und Geduld, um das Alleinsein als Chance zu erkennen.
    Es war und ist mir wichtig, diese Chance zu nützen.
    Ein großes Thema, das Du wunderbar erörtert hast, wie immer ist es mir eine große Freude, bei Dir zu lesen – und darüber nachzudenken.
    Was mir auch auffällt: Deine Texte werden jedes Mal von sehr stimmigen Bildern begleitet. Das will auch einmal rückgemeldet sein.
    Herzliche Grüße, C Stern

  2. Hanspeter Gautschin

    Vielen Dank für Deine achtsame und bestärkende Rückmeldung!

    Ja, das Alleinsein wird so oft missverstanden, dabei kann gerade in der Stille so viel Klarheit und Kraft liegen. Es freut mich sehr, dass Du diesen Gedanken nicht nur teilst, sondern ihn für Dich auch als Chance erkannt und angenommen hast.

    Besonders schön finde ich, dass Du auch die Bilder erwähnst – das Visuelle ist für mich ein wichtiger Teil des Ausdrucks, und wenn das beim Lesen mitschwingt, dann hat sich der Aufwand gelohnt.

    Ich freue mich immer über Deine Gedanken – sie erweitern die Perspektive und laden zum Weiterdenken ein.

    Mit herzlichen Grüssen
    Hanspeter

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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