Erst wenn alltägliche Dinge fehlen, erkennen wir ihren wahren Wert. Diese Weisheit traf mich in schmerzlicher Form, als ich elf Jahre alt war.
Es war während eines Ferienlagers im Berner Oberland. Unser Lagerleiter, ein unerschütterlicher Enthusiast für ausgedehnte Wanderungen, führte uns oft auf steile Pfade durch die malerischen, aber anspruchsvollen Landschaften.
Während einer besonders anstrengenden Wanderung hatte ich bald meine Teekanne geleert und litt hinterher unter unsäglichem Durst. Es war ein Durst, der mich an die verzweifelten Wüstenwanderer in den Geschichten erinnerte, die ich gelesen hatte. In meinem benebelten Zustand erschien mir eine schillernde Fata Morgana: lieblich sprudelnde Brunnenröhren. In meinem Heimatdorf gab es noch viele solcher Dorfbrunnen mit ausgezeichnetem Trinkwasser, und in diesem Moment hätte ich alles dafür gegeben, einen tüchtigen Schluck direkt aus der Röhre nehmen zu dürfen.
Dank dieses durstigen Erlebnisses habe ich Zeit meines Lebens den Dorfbrunnen höchste Verehrung gezollt.
Die Bedeutung der Dorfbrunnen in der Geschichte
Als Orte der Begegnung waren die Dorfbrunnen lange Zeit wichtige Fixpunkte im Alltag der Dorfbewohner. Täglich mussten sie Wasser am Brunnen holen, denn es gab noch kein fliessendes Wasser in den Häusern. Beim Wasserholen traf man sich am Brunnen und tauschte Neuigkeiten aus. Die Brunnen waren nicht nur lebensnotwendig, sondern auch soziale Zentren. Hier erzählten die Frauen des Dorfes die neuesten Geschichten, die Kinder spielten, und die Bauern tränkten ihr Vieh.
Die ersten Brunnen bestanden aus einfachen Trögen, die aus dicken Eichenstämmen geformt wurden. Um das Quellwasser zu den Brunnen zu führen, nutzte man die sogenannten «Teuchel», ausgehöhlte Baumstämme, die man ineinanderschob. Diese primitive, aber effektive Technik zeugt vom Einfallsreichtum und dem handwerklichen Geschick der damaligen Menschen. Mit der Zeit ersetzte man den hölzernen Trog durch robusteren Kalkstein, und auch der Brunnstock wurde aus widerstandsfähigeren Materialien gefertigt.
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren Dorfbrunnen oft kunstvoll gestaltet. In vielen europäischen Dörfern und Städten wurden sie zu wahren Schmuckstücken, die nicht nur funktional, sondern auch ästhetisch ansprechend waren. Brunnen wurden mit kunstvollen Skulpturen und Verzierungen versehen, die oft religiöse oder mythologische Motive darstellten.
Der Wandel der Zeit
Als dann die «Neue Zeit» mit ihrer enormen Bautätigkeit anbrach, verloren die Dorfbrunnen ihre einstige Bedeutung. Die Einführung moderner Wasserleitungen brachte das Wasser direkt in die Häuser und machte den täglichen Gang zum Brunnen überflüssig. Dazu kam der immer grösser werdende Verkehr, welcher das Tränken der Tiere an den Brunnen gefährlich werden liess.
In vielen Dörfern wurden die Brunnen vernachlässigt oder sogar abgerissen. Doch in einigen Orten blieben sie erhalten, oft liebevoll restauriert und gepflegt als Erinnerung an vergangene Zeiten. Diese Brunnen sind heute malerische Relikte einer anderen Zeit, die in ihrer romantischen Verklärung an die Einfachheit und Gemeinschaft vergangener Tage erinnern.
Der ewige Charme der Brunnen meines Heimatdorfes
In meinem Heimatdorf jedoch haben sich die Zeiten in dieser Hinsicht weniger verändert. Die Brunnen, wie ich sie in meiner Kindheit kannte, stehen noch immer an ihren Plätzen, sprudeln und glitzern im Sonnenlicht wie eh und je. Diese Brunnen sind nicht nur funktionale Wasserspender, sondern lebendige Zeugen der Vergangenheit. Sie erinnern mich täglich daran, wie wertvoll Wasser ist und wie sehr es geschätzt werden sollte.
So bleibt uns auch hier nur noch die romantisch-verklärte Erinnerung an eine Zeit, in der Wasser nicht einfach aus dem Hahn kam, sondern einen zentralen Punkt im Leben der Menschen darstellte. In der Erinnerung an die Brunnen lebt auch ein Stück der alten Gemeinschaft weiter, ein Symbol für den Zusammenhalt und die gemeinsame Anstrengung in einer oft harten und entbehrungsreichen Zeit.
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