Im August 1923 blickte die Schwingerschweiz gespannt nach Vevey. Am Ufer des Genfersees wurde das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest ausgetragen – ein Höhepunkt im nationalen Sportkalender.
Unter den Favoriten: ein hochgewachsener, drahtiger Mann mit präziser Technik und eiserner Entschlossenheit. Sein Name: Karl Thommen, aufgewachsen in Oberdorf BL. Wenige kannten ihn – nach dem Fest kannte ihn jeder.
Der Sieg kam nicht überraschend für jene, die Thommen schon als Nationalturner im Turnverein Oberdorf BL erlebt hatten. Seine körperliche Präsenz, seine taktische Intelligenz und seine Fairness zeichneten ihn aus. Bereits 1913 wurde er in den Kantonalvorstand der Baselbieter Schwinger berufen – ein Zeichen seiner frühen Anerkennung auch abseits des Sägemehls.
Beruflich verschlug es Thommen nach Zürich – sportlich fand er rasch Anschluss beim dortigen Schwingklub. Von da an trat er für den Nordostschweizer Schwingerverband an. Dass er dem Baselbiet verbunden blieb, stand für ihn ausser Frage – auch wenn er fortan unter «fremder» Flagge rang, blieb sein Herz im Oberbaselbiet verwurzelt.
Königstitel mit Ansage
Beim Eidgenössischen Schwingfest 1923 in Vevey bewies Thommen, was ihn auszeichnete: technische Vielseitigkeit, Nervenstärke und seinen berüchtigten «Kurz», den er meisterhaft beherrschte. Im Anschwingen warf er den Berner Sennen Rudolf Bigler in einem sehenswerten Gang ins Sägemehl. Weitere Gegner folgten – der «Mutz» leistete hartnäckigen Widerstand, der Oberentfelder Willy Kyburz versuchte es mit Haken und Brienzer, vergeblich. Gottfried Luginbühl musste sich gleich zweimal geschlagen geben.
Im Schlussgang traf Thommen auf Emil Aepli aus Arbon. Aepli, schwer gebaut und kräftig, galt als zäher Widersacher. Doch Thommen behielt die Übersicht. Nach einem ersten missglückten Versuch überraschte er den Arboner mit einem explosiven Hüfter – und sicherte sich damit den Titel Schwingerkönig 1923. Sein Preis: ein lebendiges Schaf – traditionell und bodenständig, wie es sich für einen König im Sägemehl gehört.
Mehr als Muskelkraft
Was Karl Thommen auszeichnete, war nicht nur seine körperliche Stärke. Zeitzeugen beschrieben ihn als wachen Geist, als Mann mit klaren Prinzipien, als jemanden, der stets Verantwortung übernahm. 1932 wurde er zum Obmann des Eidgenössischen Schwingerverbandes gewählt – das höchste Amt im Verband. Neun Jahre lang leitete er dessen Geschicke mit Umsicht, Weitsicht und einem feinen Gespür für den Zusammenhalt innerhalb der Schwingerwelt.
Er verstand es, Brücken zu schlagen zwischen Tradition und Organisation, zwischen sportlichem Ehrgeiz und kameradschaftlichem Geist. Seine Amtszeit war geprägt von Stabilität, von der Stärkung regionaler Strukturen und einer neuen Wertschätzung für die Vielfalt der Schwingtraditionen in den einzelnen Verbänden.
Nach seinem Rücktritt 1941 wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft verliehen – eine Auszeichnung, die nur wenigen zuteil wird und bis heute für ausserordentliche Verdienste im Schweizer Schwingsport steht.
Ein Oberdörfer mit Format
Karl Thommen starb 1968. In seiner Person verband sich sportliche Höchstleistung mit menschlicher Bodenständigkeit – eine Kombination, wie sie seltener geworden ist. Wer ihn erlebt hat, erinnert sich an einen Mann mit Handschlagqualität, mit ruhiger Autorität und mit dem festen Willen, das Schweizer Schwingen weiterzuentwickeln – ohne seine Wurzeln zu verleugnen.
Dass sein Name heute kaum mehr bekannt ist, mag erstaunen. Doch wer sich mit der Geschichte des Schwingsports befasst, stösst unweigerlich auf Karl Thommen aus Oberdorf – einen König im Sägemehl und einen Integrationsfigur ausserhalb davon.
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