Pfingsten – Das Licht im Innersten

Manches Fest im Jahreskreis lebt nicht vom Äusseren, sondern davon, was sich in der Tiefe des Menschen vollzieht. So gehört Pfingsten – weit mehr als gemeinhin bekannt – zu jenen Festen, die eine innere Bewegung im Menschen spiegeln: eine Erinnerung an das, was ihn im Wesen ausmacht.

Pfingsten ist kein Spektakel. Es hat nichts mit Geschenken, Hasen oder Kerzenlicht zu tun. Es ist ein Fest des unsichtbaren Feuers, das nicht verbrennt, sondern entzündet – in der Seele. In alten Überlieferungen heisst es, es sei der Geist gewesen, der die Jünger Christi berührte. Doch was bedeutet das, heute?

Es bedeutet: Etwas erwacht im Menschen, das nicht von aussen kommt. Etwas Eigenes, das in uns lebt und uns den Weg zur Freiheit weist – nicht die Freiheit der Beliebigkeit, sondern jene, die aus innerer Einsicht wächst. Es ist das «Ich bin», das sich seiner selbst bewusst wird. Nicht als Ego, das alles für sich beansprucht, sondern als geistiger Mittelpunkt, der verbindet und Verantwortung trägt.

Das göttliche «Ich bin» im Menschen

Die alten Schriften erzählen, wie Mose im brennenden Dornbusch der Stimme begegnete, die sprach: «Ich bin, der ich bin.» In diesen Worten liegt mehr als ein Name. Es ist ein Bekenntnis zur Kontinuität des Seins, zur Treue gegenüber sich selbst – auch im Wandel. Dieses «Ich bin» wurde zum tragenden Fundament einer geistigen Entwicklung, die mit dem Judentum begann und im Christentum neue Dimensionen gewann.

Lange war das Ich eingebettet in Familien- und Volkszugehörigkeit, getragen von äusseren Geboten und kultischen Handlungen. Doch Pfingsten markiert den Moment, in dem etwas geschieht, das über Blutsbanden hinausweist: Das Ich beginnt, sich selbst zu erkennen – und seinen inneren Massstab zu finden.

Rudolf Steiner deutete die Zehn Gebote als Entwicklungsstufen des Ichs. Sie seien nicht bloss moralische Vorschriften, sondern Hinweise auf eine innere Reifung. Die Aufforderung, den Feiertag zu heiligen, wird so zur Einladung, dem Alltag ein geistiges Gegenüber zu geben. Sich zu erinnern, dass man nicht nur lebt, um zu funktionieren – sondern auch, um zu sein.

Vom äusseren Gesetz zur inneren Einsicht

Solange der Mensch sein Ich nicht in Freiheit führen kann, braucht es Wegweiser von aussen. Gesetze, Gebote, Traditionen. Doch das Ziel ist nicht das Gesetz – sondern seine Überwindung durch Erkenntnis. Wer die Wahrheit versteht, braucht kein Verbot, um richtig zu handeln. Freiheit, so verstanden, ist keine Belohnung, sondern eine Aufgabe. Sie will errungen sein – und das geht nur, wenn man bereit ist, in sich selbst zu horchen.

Christus sagte nicht: «Ich bringe ein neues Gesetz.» Er sagte: «Ich erfülle.» Was von aussen kam, soll nach innen wachsen. Das ist das Pfingstgeschehen: Der Geist, der vorher von aussen lehrte, beginnt im Menschen selbst zu wirken. Nicht als Befehl, sondern als inneres Feuer – als Stimme, die leitet, wenn man still genug wird, sie zu hören.

Der Mensch als Bruder des Menschen

In einem bemerkenswerten Gleichnis wies Christus seine Jünger darauf hin, dass nicht die Blutsverwandtschaft das Entscheidende sei, sondern der gemeinsame Wille zum Guten. Bruder, Schwester, Mutter – das sind nicht nur biologische Kategorien, sondern Hinweise auf eine seelisch-geistige Verbundenheit. Wer im Innersten wahrhaft Mensch wird, erkennt den anderen als Mensch – jenseits von Herkunft oder Sprache.

Diese Erkenntnis hat Europa geprägt. Sie ist leise, doch wirksam. Nicht imposant, aber tragend. Sie lebt in den stillen Momenten, wenn man fühlt: Ich bin nicht allein. Und: Ich bin frei. Frei, zu entscheiden. Frei, zu handeln. Frei, Mensch zu sein.

Pfingsten heute

Vielleicht ist es an der Zeit, diesem alten Fest wieder Bedeutung zu geben. Nicht im liturgischen Sinn. Sondern als innere Bewegung. Als Erinnerung daran, dass in jedem von uns ein Licht lebt, das sich nicht aufdrängt, aber wartet – darauf, dass wir es erkennen. Es brennt nicht wie ein Feuerwerk, sondern wie eine Öllampe. Es braucht Pflege. Aufmerksamkeit. Und vor allem: Stille.

Wer Pfingsten in sich selbst erfährt, erlebt das «Ich bin» nicht als Trennung, sondern als Verbindung. Er sieht sich nicht über den anderen, sondern mit ihm. Und er weiss: Freiheit ist nicht das Ziel – sie ist der Weg.

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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