Die Herbstzeitlose (Colchicum autumnale) – Mythologie, Giftigkeit und Heilkraft einer ungewöhnlichen Pflanze.

Die Fantasie unserer Vorfahren trieb manchmal seltsame Blüten. Warum gab man einer heimischen Blume einen so aufreizenden Namen wie «Nackte Jungfer»? Dieser Beitrag beleuchtet die mythischen Ursprünge, die giftigen Geheimnisse und die heilenden Kräfte der Herbstzeitlose.

Eine Pflanze ausserhalb der Zeit

Die Herbstzeitlose, wissenschaftlich Colchicum autumnale, ist eine Pflanze, die sich nicht an den üblichen Jahreszyklus hält. Während die meisten Pflanzen im Frühling blühen, zeigt sie erst von September bis Oktober ihre zarten, lilafarbenen Blüten. Ohne Laubblätter wirken diese Blüten nahezu «nackt», was ihr den volkstümlichen Namen «Nackte Jungfer» einbrachte. Ihre Blätter und Fruchtkapseln erscheinen erst im folgenden Frühjahr – eine Besonderheit, die mittelalterliche Botaniker mit dem Ausdruck «Filius ante patrem» (Sohn vor dem Vater) beschrieben.

Der Name «Zeitlose» verweist auf ihre ungewöhnliche Blütezeit, die ausserhalb der «Zeit» der meisten anderen Pflanzen liegt. Es gibt jedoch weitere Deutungen des Namens, die sich auf ihre zeitlose Schönheit oder ihre scheinbare Unabhängigkeit vom Jahreslauf beziehen.

Mythologie und Etymologie: Medea und Colchis

Der Gattungsname «Colchicum» leitet sich von der antiken Landschaft Colchis ab, der Heimat der sagenumwobenen Zauberin Medea. In der griechischen Mythologie war Medea bekannt für ihre Kenntnisse von Heil- und Giftpflanzen. Die Namensgebung verbindet die Pflanze mit der mystischen Welt von Zauberei und Alchemie.

Der antike griechische Arzt Dioskurides erwähnte die Pflanze in seinen Schriften und trug zur Verbreitung ihres Namens bei. So kennt die Wissenschaft die Herbstzeitlose heute als Colchicum autumnale, wobei «autumnale» auf ihre herbstliche Blütezeit verweist.

Giftigkeit und Heilkraft: Die Dosis macht das Gift

Dass die Giftigkeit einer Substanz immer eine Frage der Dosis ist, lehrte bereits Paracelsus, der Wegbereiter der neuzeitlichen Medizin im 16. Jahrhundert. Die Herbstzeitlose enthält das hochgiftige Alkaloid Colchicin, das bereits in geringen Mengen gefährlich sein kann. Besonders bei Kindern können Vergiftungserscheinungen auftreten, wenn sie Teile der Pflanze in den Mund nehmen. Symptome reichen von Brennen im Mund über Übelkeit bis hin zu schweren Kreislaufproblemen.

Trotz ihrer Giftigkeit findet die Herbstzeitlose in der Medizin Verwendung. Colchicin wird in kontrollierten Dosen zur Behandlung von Gichtanfällen und bestimmten Entzündungserkrankungen eingesetzt. Es hemmt die Zellteilung und wirkt dadurch entzündungshemmend. Allerdings ist die Grenze zwischen therapeutischer und toxischer Dosis sehr schmal, weshalb die Anwendung ausschließlich unter ärztlicher Aufsicht erfolgen sollte.

Volksnamen und Volksglauben

Die Herbstzeitlose ist reich an volkstümlichen Namen und Legenden. Neben «Nackte Jungfer» kennt man sie auch als «Wiesenlilie» oder «Zeitlose». Im Französischen heißt sie «Dame nue» und im Englischen «Naked Lady», was ebenfalls auf das blattlose Erscheinen der Blüten anspielt.

Der deutsche Botaniker Heinrich Marzell dokumentierte in seinem «Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen» zahlreiche Bezeichnungen für die Herbstzeitlose, was zeigt, wie sehr die Pflanze die Menschen faszinierte. Einige Volksglauben schreiben ihr magische Eigenschaften zu, doch sollten solche Geschichten stets mit Vorsicht betrachtet werden, insbesondere im Umgang mit einer so giftigen Pflanze.

Vorsicht in der Natur: Gefahren für Mensch und Tier

In unseren feuchten Wiesen ist die Herbstzeitlose weit verbreitet. Ihre an Krokusse erinnernden Blüten können Verwechslungen fördern, was für Menschen und Weidetiere gefährlich werden kann. Landwirte sollten darauf achten, dass die Pflanze nicht in Heu oder Silage gelangt, da sie auch getrocknet ihre Giftigkeit behält. Wanderer und Eltern sollten Kinder sensibilisieren und darauf hinweisen, die Pflanze nicht zu pflücken oder gar zu probieren.

Respekt vor einer aussergewöhnlichen Pflanze

Die Herbstzeitlose ist eine Pflanze voller Widersprüche: Schönheit und Giftigkeit, Mythos und Medizin verbinden sich in ihr auf faszinierende Weise. Sie erinnert uns daran, dass die Natur voller Wunder steckt, die wir bewundern, aber auch respektieren sollten. Bei unserem nächsten Spaziergang durch die herbstlichen Wiesen können wir die «nackten Jungfern» aus sicherer Entfernung betrachten und die Vielfalt unserer Flora schätzen lernen.

 

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