Wie ich mich erfolglos gegen das helvetische Augenwasser wehrte

Es ist wie verhext mit uns Schweizerinnen und Schweizern. Kaum befinden wir uns im Ausland, werden wir unter den Augen der Anderen regelrecht heimatliebend.

In wein- oder bierseliger Runde – und manchmal sogar stocknüchtern (wenn auch seltener) – geben wir gerne unsere Heimatlied-Renner zum Besten.

Auch mir erging es schon so. Ich erinnere mich gut an ein Erlebnis im Norden Kaliforniens, wo mich die Heimatliebe ganz unverhofft überkam.

Als vermeintlich einziger Europäer unter einer Gruppe von «Yankees» nahm ich an einem mehrtägigen Seminar teil. Während die Teilnehmenden nach und nach eintrudelten, hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme das «Guggisberglied» anstimmen.

Gebannt lauschte ich ihrem wunderschönen Gesang – und konnte nur mit Mühe das aufsteigende helvetische Augenwasser zurückhalten. Ich konnte es kaum fassen, denn ich war zu jener Zeit nun wirklich nicht gerade der heimattümelnde Hardcore-Eidgenosse.

Was ist es also, das uns mit dem Begriff Heimat so tief berührt? Ich habe mich auf Spurensuche begeben – und dabei Erstaunliches zutage gefördert:

Der Begriff Heimat leitet sich vom althochdeutschen heimōti (auch heimuoti) ab. Ursprünglich bedeutete das so viel wie «Zugehörigkeit zum Heim», also zur Wohnstätte oder Gemeinschaft. Im religiösen Kontext bekam der Begriff früh auch eine spirituelle Bedeutung: Die «himmlische Heimat» war Sinnbild für das Jenseits, das versprochene Himmelreich. Gerade in der geistlichen Sprache des Frühmittelalters tauchte heimōti in dieser Bedeutung auf.

Die Vorstellung, dass wir auf Erden nur Pilger seien – auf dem Weg zu unserer wahren, jenseitigen Heimat –, prägte über Jahrhunderte das Denken der Menschen. Erst allmählich, im Verlauf des Spätmittelalters und verstärkt durch die Reformation, verlagerte sich das Verständnis von Heimat zunehmend ins Diesseits. Das Jenseits verlor an Boden, die irdische Zugehörigkeit trat in den Vordergrund.

Diese Säkularisierung des Heimatbegriffs führte dazu, dass sich «Heimat» nun nicht mehr nur auf das himmlische Ziel, sondern auch auf konkrete Landschaften, Regionen, Sprachräume und Gemeinschaften bezog – kurz: auf das Hier und Jetzt.

Vor dieser Verweltlichung aber, so darf man vermuten, spielte das, was wir heute unter Heimatgefühl oder gar Heimweh verstehen, in der psychischen Welt des mittelalterlichen Menschen eine eher untergeordnete Rolle. Nicht, weil ihm die Bindung an Herkunft oder Ort fremd gewesen wäre – aber das Leben im Diesseits galt vielerorts als eine Art Übergangsraum, als Prüfungszeit oder gar als Verbannung.

Das zeigt sich auch in einem anderen alten Wort: ellende. Dieses stammt vom althochdeutschen alilenti und bedeutete ursprünglich «fremdes Land», «in der Fremde lebend». Später wurde daraus das Wort Elend, das noch heute ein Zustand der Not und Entwurzelung beschreibt. Für die mittelalterliche Theologie war das irdische Dasein oft ein Zustand des ellende – das eigentliche Ziel lag jenseits dieser Welt.

Die irdische Existenz, auch die geografische Heimat, wurde im Lichte der biblischen Vertreibung aus dem Paradies als Ort der Verbannung gesehen. Der Mensch war ein Gast auf Erden – und sehnte sich zurück «nach Hause», in seine ursprüngliche, göttliche Heimat.

Wieder also ein Begriff, der – wie so viele – von kirchlichen Vorstellungen tief geprägt wurde. Ob bewusst oder nicht: Das Gefühl, dass unsere «Heimat» mehr ist als nur ein Ort, sondern etwas beinahe Heiliges, hat sich tief in unsere kollektive Gefühlswelt eingeschrieben.

P.S. Die erwähnte Interpretin des «Guggisbergliedes» war übrigens eine klassisch ausgebildete Sängerin aus Zürich.

Guggisberglied, interpretiert von Stephan Eicher:

 

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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