Ein zarter Duft lag in der Morgenluft, als die Dämmerung langsam der aufgehenden Sonne wich.

Feine, seidenweiche Nebelschleier schwebten über den Feldern, kaum sichtbar, und formten durchsichtige Gestalten, die sich anmutig die Hände reichten. Diese tanzten unruhig auf und ab, voller Ungeduld, auf die Sonne wartend. Die Nebelwesen wussten, dass die Sonne entscheiden würde, ob sie heute fröhlich in den Himmel aufsteigen und mit den Engeln Verstecken spielen dürften, oder ob sie traurig und klagend über die Erde schleichen müssten.

Die Sonne jedoch hatte sich längst hinter dem Wald versteckt, lugte neugierig durch das Geäst und schmunzelte über die ungeduldige Schar. Der Himmel schien das Spiel zu geniessen, seine blauen Augen leuchteten vor Freude. Dann, plötzlich, trat die Sonne mit einem strahlenden Lachen aus ihrem Versteck hervor, als wolle sie die ganze Welt mit ihrem Glanz erschrecken. Ihre schimmernde Spur zog sich feldeinwärts, doch als sie sich umsah, entdeckte sie etwas Unerwartetes – überall, wo sie hinsah, fanden sich Tränen.

«Was ist nur los?» fragte sich die Sonne erstaunt und beugte sich hinab zu einem kleinen Blümchen, das sich in Tränen aufgelöst hatte. «Warum weinst du, mein Kleines?» fragte sie sanft.

Das Blümchen zupfte verlegen an seinem blauen Röckchen und blickte schüchtern zur Seite. «Es ist wegen des weissen Falters,» flüsterte es schliesslich.

«Was hat dir der Falter denn angetan?» wunderte sich die Sonne.

«Ich war ihm immer gut», antwortete das Blümchen mit leiser Stimme. «Als ihn böse Vögel jagten, habe ich ihn mit meinen Blättern versteckt. Und als er flügellahm war, habe ich ihn gepflegt. Tag und Nacht habe ich darüber nachgedacht, was ich ihm Liebes tun könnte, wenn er zurückkommt.»

«Und er ist nicht zurückgekommen?» fragte die Sonne.

«Doch», sagte das Blümchen traurig. «Er kam zurück, aber er war verändert, so ganz anders. Es schien, als würde er sich meiner schämen. Wenn er mit anderen Schmetterlingen unterwegs war, tat er so, als würde er mich nicht kennen, und flog in weitem Bogen an mir vorbei. Er war nicht mehr flügellahm, und die bösen Vögel verfolgten ihn auch nicht mehr. Was hätte ich ihm noch sein können?» fügte es mit einem tiefen Seufzer hinzu.

Die Sonne seufzte leise. «Das ist nicht schön von ihm», murmelte sie.

«Vielleicht kann er nichts dafür», verteidigte das Blümchen zaghaft. «Vielleicht haben ihm die bösen Mistkäfer hässliche Dinge über mich erzählt. Wenn ich nur wüsste, was ihn verändert hat, ich gräme mich zu Tode.»

«Vergiss den Falter, wenn du kannst», riet die Sonne sanft und zog nachdenklich weiter. Sie kannte die Schmetterlinge.

Am Wegesrand entdeckte die Sonne die Heckenrose, die mit gebeugtem Haupt und matt verwelkten Blütenblättern dastand, als wolle sie sterben. Zärtlich strich die Sonne über die feinen, seidenen Blätter der Rose und fragte nach ihrem Kummer.

Die Heckenrose schluchzte tief auf, als hätte sie lange darauf gewartet, all ihren Schmerz jemandem anzuvertrauen. «Der Falter mit den blauen, glänzenden Flügeln kam zu mir», begann sie leise. «Tag für Tag, wenn die Gräser und Blumen in den heissen Mittagstraum sanken. Sein Besuch erfüllte mein Herz mit einer seltsamen Freude, als würden tausend feine Saiten in mir erklingen. Ein Leuchten durchflutete meine Seele, und ich brachte ihm all das Neue und Schöne, das in mir erwachte, entgegen. Ich war so glücklich.»

Die Rose hielt inne, kämpfte mit ihren Tränen, bevor sie weitersprach. «Doch dann kam ein Tag, an dem ich vergebens auf ihn wartete. Angstvoll rief ich nach ihm, fragte die Blumen und Gräser und Käfer um Rat. Schliesslich ging die Grille los, um ihn zu suchen. Bei den roten Kleeblüten fand sie ihn. Sie erzählte ihm, dass ich in Kummer und Sorge auf ihn wartete. Aber er lachte nur und sagte, dass das nicht nötig sei. Er suche den Honig, wo er am süssesten sei.»

Die Heckenrose erzitterte vor Schmerz. Die Sonne, ganz still geworden, strich noch einmal sanft über die bleichen Rosenblätter und zog dann traurig weiter. Den ganzen Tag über wehte ein kalter, harter Wind über die Erde, und kein Sonnenstrahl vermochte ihn zu vertreiben. Die Sonne dachte an das Schicksal des kleinen blauen Blümchens und an die blassrote Rose, die ihr ganzes Selbst, ihre heisse, zitternde Liebe dem Falter geschenkt hatte. Sie dachte an den glänzenden Falter, der Blume um Blume küsste, ohne noch den feinen Zauber der Rose zu spüren. Der nur das Tröpflein Honig sah und nichts weiter – und dann weiterzog, als er den Honig genommen hatte.

 

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