Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte keine Eltern mehr. Vater und Mutter waren schon lange gestorben, und so lebte es mit einer alten Nachbarin in einer dunklen, ärmlichen Hütte am Rand eines Felsens. Oft sass es still da und dachte über vieles nach.
Eines Tages fasste es einen Entschluss: «Ich werde die Sonne suchen und sie mit nach Hause bringen!»
Irgendwann hatte es einmal die Sonne weit oben über den Bergen leuchten sehen, gross und golden. Seitdem war die Sehnsucht in ihm gewachsen. In seiner kindlichen Vorstellung, in der alles möglich schien, glaubte es fest daran, dass sein Vorhaben gar nicht so schwer sein könne.
So band es sich an einem stürmischen, regnerischen Tag ein rotes Tuch über die schwarzen, krausen Haare, sah die alte Nachbarin mit entschlossener Miene an und verkündete: «Ich gehe jetzt los, um die Sonne zu finden.»
Es deutete mit ernstem Blick auf den grauen, wolkenverhangenen Himmel und sagte: «Bei so einem Wetter sehnt man sich doch nach einem Licht, das immer da ist!»
Die alte Frau nickte nachdenklich und seufzte tief.
Das Mädchen aber machte schon Pläne: «Wenn ich mit der Sonne zurückkomme, hängen wir sie an diese Wand!»
Dann nahm es eine kleine Holzleiter, die an der Hütte lehnte, winkte der alten Frau noch einmal zu und zog los.
Die Wanderung war mühsam. Das enge, dunkle Tal schien kein Ende zu nehmen. Der Boden war vom Regen aufgeweicht und rutschig, und die Tropfen fielen unaufhörlich in eintönigem Rhythmus. Der Wind stiess heftig durch die engen Schluchten, und die Bäche rauschten so laut, als wären sie zu wilden Flüssen geworden.
Oft musste das Mädchen seine Leiter als Brücke benutzen, um über die tosenden Wasser zu gelangen. Seine kleinen, blossen Füsse wurden kalt und nass, aber es liess sich nicht entmutigen.
Nach langer Zeit erreichte es endlich den Fuss eines hohen Berges. Dort hatte es die Sonne einmal am Himmel gesehen, weit, weit oben.
Als es die Leute im Dorf nach der Sonne fragte, zuckten sie nur mit den Schultern.
«Die Sonne? Die haben wir schon lange nicht mehr gesehen.»
«Vielleicht findest du sie auf dem Gipfel des Berges, aber sicher ist das nicht.»
Und mit mürrischer Stimme fügten sie hinzu: «Früher war alles besser. Heute ist nichts mehr gewiss – selbst auf die Sonne kann man sich nicht mehr verlassen. Alles nur noch Regen und schlechtes Wetter! Und so ist auch das Leben.»
Das Mädchen wusste nicht recht, was es darauf antworten sollte. Unsicher lächelte es vor sich hin. Doch seine Hoffnung blieb unerschütterlich.
Trotz schmerzender Füsse setzte es seinen Weg fort.
Der Weg wurde steiler, und immer häufiger musste es seine Leiter benutzen, um über tiefe Spalten zu klettern oder sich an den glatten Felsen hochzuziehen. Manchmal schloss es erschrocken die Augen, wenn es nach unten blickte und sah, welchen Gefahren es bereits entkommen war.
Doch schliesslich erreichte es den Gipfel des Berges.
Es lockerte sein rotes Tuch ein wenig, damit der kalte Wind ihm die heissen Wangen kühlen konnte. Dann blieb es zwischen Himmel und Erde stehen, atmete tief ein und wartete – voller Erwartung auf etwas Grossartiges.
Und genau in diesem Moment ging die Sonne auf.
Ein strahlender, goldener Glanz ergoss sich über den Berggipfel und liess die Welt in einem magischen Licht erstrahlen.
Das Mädchen war geblendet von der hellen Pracht und hielt die Arme schützend vor die Augen. Doch nach einer Weile gewöhnten sich seine Blicke an das Licht, und voller Freude streckte es die Hände nach den warmen Sonnenstrahlen aus, als wolle es sie greifen und pflücken – so wie eine Blume auf dem Feld.
Doch die Sonnenstrahlen waren fest mit der Sonne verbunden. Sie liessen sich nicht fangen oder abbrechen.
«Wozu habe ich meine Leiter? Ich werde sie einfach an die Sonne anlehnen, hinaufsteigen und sie mit nach Hause nehmen!»
Während es sich das vorstellte, malte es sich aus, wie es die Sonne in die dunkle Hütte hängen würde.
«Dann wird es immer hell sein! Und ich werde für die Sonne tanzen und singen, damit es ihr in unserer kleinen Hütte nicht langweilig wird.»
Das Mädchen war überzeugt, dass die Sonne sich dort sehr wohlfühlen würde. Und falls ihr Licht nachts zu grell sein sollte, konnte man einfach die Tür des kleinen Ziegenstalls vor sie stellen.
Es rückte prüfend an seiner Leiter, stellte sicher, dass sie feststand, und begann vergnügt, Stufe um Stufe hinaufzusteigen.
Doch die Sonne hatte das Mädchen schon eine ganze Weile beobachtet.
Als sie nun sah, was das Kind vorhatte, schüttelte sie schmunzelnd den Kopf.
«Ach du liebes, unverständiges Kind,» sagte sie mit sanfter Stimme, «ich gehöre doch der ganzen Welt! Niemand kann mich ganz für sich allein haben.»
Das Mädchen hielt inne.
Die Sonne sprach weiter: «Aber weil du so mutig warst und diesen weiten Weg nicht gescheut hast, will ich dir etwas anderes schenken. Ich lege dir einen goldenen Strahl in dein Herz und in deine Augen. Dann hast du für immer ein Stück Sonne bei dir, und selbst in dunklen Zeiten wirst du ein Licht sehen.»
Sanft breitete die Sonne einen goldenen Strahl über das Mädchen aus.
Es spürte ein warmes, leuchtendes Glück tief in sich.
Es wagte kaum zu atmen, so wunderbar war dieses Gefühl.
Dann kletterte es von seiner Leiter herunter, bedankte sich innig bei der Sonne und machte sich auf den Heimweg.
Immer wieder fasste es sich ans Herz, um zu spüren, ob der Sonnenstrahl noch da war.
Ja!
Er war noch da – und er liess alles um es herum heller erscheinen.
Überall, wo das Kind hinkam, freuten sich die Menschen über seine warme, leuchtende Ausstrahlung.
Und wenn sie es fragten: «Wie kann es sein, dass du so glücklich bist? Du bist doch ein armes Waisenkind», dann lächelte es geheimnisvoll und erzählte leise von seiner langen Wanderung, vom hohen Berg, von der Leiter – und von der Sonne.
Manche lachten über seine Geschichte.
Doch es gab auch welche, die ihm glaubten. Und einige machten sich selbst auf den Weg, um sich einen goldenen Sonnenstrahl für ihre Seele und Augen schenken zu lassen.
Und wer weiss – vielleicht leuchtet ja auch in dir schon ein kleines Stück Sonne?
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