Es war eine äusserst seltsame Gestalt, die jeweils donnerstags die Eimattstrasse in meinem Heimatdorf mit tänzelnden Schritten heruntertrippelte. Eingehüllt war diese Gestalt in einen etwas schäbigen Mantel. Auch an heissen Sommertagen.

Diese Erscheinung war Herr Rosenmund. Begegnete man ihm auf der Strasse, war er stets abwesend, vergass zu grüssen und führte Gespräche mit sich selbst. Er war ‘übergeschnappt’, wie man im Dorf sagte. Und der Grund, so wurde gemunkelt, waren die vielen gescheiten Bücher, die er gelesen haben soll.

Herr Rosenmund lieferte Eier aus, die er in einem geflochtenen Korb mitführte. Hinter ihm meistens eine johlende Bubenschar. Doch das kümmerte ihn wenig. Möglicherweise nahm er diese Lausbuben gar nicht wahr.

Leider weiss ich nichts Näheres zu diesem seltsamen Mann. Weder, wo er wohnte, in wessen Auftrag er die Eier verteilte, wie alt er damals gewesen war und wann er gestorben ist.

Ich selbst bin ihm nie hinterhergelaufen, habe ihn auch nie verspottet. Mich interessierte einfach, ob er wirklich ‘verrückt’ war.

Eines Tages (ca. 1964) hatte ich die Gelegenheit, ihn direkt danach zu fragen. Er war alleine mit seinem Eierkorb unterwegs. Keine Buben liefen spottend hinter ihm her. Ich fasste mir also ein Herz, verstellte ihm den Weg und sprach ihn direkt an:

«Herr Rosenmund, darf ich Sie etwas fragen?»

Er schaute mit fragendem Blick zu mir herunter. Seine Augen veränderten sich. Der flackernde Ausdruck wich einer interessierten Anteilnahme. Er meinte: «Natürlich darfst Du das. Was möchtest Du denn wissen?»

«Sind Sie wegen der vielen gescheiten Bücher, die Sie gelesen haben, etwas ‚übergeschnappt’»?“ fragte ich ihn mit unschuldiger Miene.

Er schaute mich lange an, räusperte sich, strich mir über den Kopf und meinte: «Ich weiss, dass die Oberdörfer das meinen. Doch dem ist nicht so. Ich erzähle Dir jetzt eine ganz persönliche Geschichte, die mich seit Jahren verfolgt. Und er begann zu erzählen.

Vor langer Zeit, ca. 1’500 Jahre vor unserer Zeitrechnung, lebte im Gerstelgebiet zwischen dem «Spitzeflüeli» und der «Gerstelflue» mit dem natürlichen Felsenfenster gegen Norden, genannt «Tüfelschuchi», ein Stamm bronzezeitlicher Menschen.

Ein junges Liebespaar dieses Stammes schwur sich ewige Liebe. Doch leider wurde aus dieser Liebe nichts, denn der mächtige Vater der jungen Frau, er war der Zauberer des Stammes dieser Höhensiedlung, hatte für seine Tochter einen anderen Mann auserwählt. Die beiden hielten sich jedoch nicht an die Anweisung des Zauberers. Immer wieder trafen sie sich heimlich. Doch der Zauberer entdeckte sie eines Tages und stiess zornbebend einen Bannfluch über die beiden aus:

«Ihr werdet nie zusammenkommen. Viele, viele Erdenleben werdet ihr verbringen, euch immer wieder treffen, eure Sehnsucht wird gross sein. Doch ihr kommt nicht zusammen. So soll es sein.»

Die beiden waren wie gelähmt. Sie wussten von der mächtigen Zauberkraft des Zauberers. Tiefe Trauer befiel sie.

Noch einmal trafen sie sich heimlich auf dem «Känzeli» der Breitenfluh. Sie mussten alle Kraft aufwenden, um diesen versteckten Ort zu erreichen. Sie setzten sich und schauten sich lange schweigend an. Tränen rannen ihnen herunter. Dann ergriff die Frau das Wort:

Mein Geliebter, mein Herz wiegt so schwer. Ich liebe Dich und alles Sehnen und Fühlen gilt nur dir. Aber mein Vater hat es mir verboten, mich weiterhin mit dir zu treffen. Und sein Fluch ist grausam. Ich weiss nicht, wie ich so weiterleben kann. Ohne dich. Ohne deine zärtlichen Worte, die Du mir ins Ohr flüsterst. Ohne deine Umarmungen. Ohne deine Küsse.»

«Ja, meine Geliebte. Es geht mir genauso wie Dir. Mein Herz ist gebrochen. Ich weiss nicht, wie es mit mir weitergehen soll. Ich glaube, ich werde den Stamm verlassen und in die Welt hinausziehen. Irgendwo werde ich schon einen Platz für mich finden. Doch Du, meine Geliebte, wirst immer in meinem Herzen sein. Auf immer und ewig.»

Sie schauten sich tief in die Augen, tränenüberströmt umarmten sie sich. Liessen sich nicht mehr los. Ihre Herzen pochten im Gleichtakt.

Plötzlich wurden sie einer Schau gewahr. Sie sahen viele Leben vorbeiziehen. Fremde Kulturen tauchten auf. Menschen in anderen Hautfarben, fremd gewandet. Wie es der Zauberer prophezeite, begegneten sie sich immer wieder. Doch der Zauberbann verhinderte stets, dass sie zusammenkommen konnten.

Die Schau löste sich langsam auf. Die beiden kehrten in die Gegenwart zurück. Sie waren äusserst verwundert, dass sie beide die gleiche Vision hatten. Der Mann ergriff die Hände seiner Geliebten und stammelte: «Doch, wir werden zusammenkommen. Wie schwer es auch sein wird. Vertrau‘ mir.»

Sie machten sich auf den beschwerlichen Abstieg. Umarmten sich nochmals, küssten sich und der Mann verabschiedete sich. Er ging in seine Hütte. Packte ein paar Habseligkeiten zusammen und machte sich auf, eine neue Heimstätte zu finden.

Seine Geliebte verstarb wenige Monate später am grossen Leid.

Herr Rosenmund stammelte noch ein paar Worte, die ich jedoch nicht verstand. Dann schaute er mich durchdringend an. «Dieser Mann bin ich gewesen und ich erinnere mich an alle vergangenen Leben hier auf dieser Erde. Ich suche meine Geliebte. Ich rede immer mit ihr. Was meinst Du, werden wir uns in diesem Leben treffen? Für immer zusammen sein?»

Mir war ganz unheimlich zumute. Dieser Mann musste verrückt sein. Was meinte er nur mit den vergangenen Erdenleben? Man lebt doch nur einmal. Das Ganze wollte mir nicht mehr aus dem Sinn.

Ich verabschiedete mich ganz schnell von ihm und eilte nach Hause. Ich erzählte niemandem von diesem Erlebnis. Doch viele Jahre später las ich in den Baselbieter Heimatblättern, dass es tatsächlich im «Gerstelgebiet» Höhensiedlungen gegeben hat. Grabungen in den Jahren 1968 und 1974 gaben Auskunft darüber. Auch das Konzept der «Reinkarnation» begegnete mir in den 1980er Jahren…

War Herr Rosenmund vielleicht doch nicht verrückt gewesen?

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