Auf Schloss Wildenstein hoch über Bouenonowe lebten die beiden Brüder Gottfried und Henmann von Wildenstein. Beide waren leidenschaftliche Jäger. Die Jagd war ihr Leben.

Vom ersten Licht des Frühlings bis zum Einbruch des Winters kannten sie keine Ruhe, kein anderes Vergnügen. Die Welt drehte sich um die Beute, die Tiere, den Wald. Andere Interessen hatten sie keine. Nur die Jagd sprach zu ihren Seelen, nur sie erfüllte ihre Tage.

Der Ältere, Gottfried, hatte sich zwar in den Stand der Ehe begeben, doch Henmann, der Jüngere, war unverheiratet geblieben – aus Liebe zur Jagd. Jeden Morgen bei Tagesanbruch lief er zu seinen Hunden, lachte und tobte mit ihnen im Schlosshof, als seien sie seine Kinder. Seine Pferde behandelte er mit ähnlicher Zärtlichkeit, tätschelte ihnen den Hals, sprach beruhigende Worte. Und während die Stunden bis zur Grosswildjagd vergingen, übte er sich im Schiessen auf Vögel, die er mit einer Armbrust jagte, so leicht, als wäre es ein Spiel.

Es war ein Winter von besonderer Härte, der das Land fest im Griff hielt. Der Frost hielt das Land fest umklammert, die Wölfe in den Wäldern verhungerten beinahe. Getrieben von unbändigem Hunger wagten sich die Bestien in die Siedlungen – Bouenonowe, Selboldisperch, Lubesingin, Civenne und Remlisperg. Dort, wo einst Ruhe geherrscht hatte, war nun Schrecken eingekehrt. Die Wölfe griffen sogar Menschen an, wenn sie des Nachts nach Hause zurückkehrten. Ihr Geheul durchbrach die stille Nacht, und sie schlichen wie Schatten um die Häuser, stets auf der Suche nach dem nächsten Opfer.

Doch es war nicht die gewöhnliche Wolfsplage, die die Menschen in Panik versetzte. Nein, ein besonders gewaltiges Tier machte die Gegend unsicher – ein riesiger Wolf mit grauem, fast weissem Fell. Er soll Kinder verschlungen, einer Frau den Arm zerfetzt und alle Hunde, die sich ihm entgegenstellten, getötet haben. Er schlich sich bis vor die Türen der Häuser, als wüsste er, dass ihm nichts im Wege stand.

Gottfried und Henmann liessen sich das nicht gefallen. Sie, die stolzesten Jäger der Gegend, wollten dem Spuk ein Ende bereiten. Gemeinsam mit anderen erfahrenen Jägern durchstreiften sie die Wälder, suchten in jedem Dickicht, durchkämmten jedes Tal – aber der grosse Wolf blieb wie vom Erdboden verschluckt. Jeder Versuch, ihm nahe zu kommen, schien vergeblich. Und als hätte das Tier einen Spott für ihre Anstrengungen übrig, überfiel es in jeder Nacht, die auf die erfolglose Jagd folgte, eine andere Siedlung.

Dann, eines Nachts, wagte es sich sogar bis zum Schloss. Zwei der schönsten Jungtiere im Schweinestall fielen dem Wolf zum Opfer. Der Zorn der Brüder entbrannte. Dies war nicht nur eine Beleidigung – es war eine offene Herausforderung. So zogen sie los, angetrieben von unbändiger Wut, die Peitschen knallend, die Hunde bellend. Der Tag verging, die Sonne versank blutrot hinter den kahlen Baumwipfeln, doch von dem Wolf fehlte jede Spur. Langsam und in bedrücktem Schweigen ritten sie durch ein enges Tal. Eine düstere Vorahnung beschlich sie.

«Das kann kein normales Tier sein», sagte Gottfried schliesslich. «Es ist, als ob es denken kann.»

«Mir ahnt nichts Gutes», erwiderte Henmann, und ein kaltes Schaudern lief ihm über den Rücken.

Als sie weiter ritten, erglühte der Himmel im roten Licht der untergehenden Sonne. «Heute Nacht wird der Wolf wieder zuschlagen», sprach Gottfried, noch bevor seine Worte verhallt waren, bäumten sich ihre Pferde auf. Aus dem Dickicht brach plötzlich ein gewaltiger, grauer Schatten hervor – der Wolf!

Mit einem Aufschrei der Freude jagten die Brüder los. Ihre Pferde galoppierten wie vom Sturm gepeitscht, ihre Stimmen hallten durch den Wald. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Während des wilden Ritts stiess Gottfried mit voller Wucht gegen einen Ast. Der Aufprall war tödlich. Sein Körper sank leblos zu Boden, das Blut strömte aus einer tiefen Wunde. Henmann kniete neben seinem Bruder, hielt den leblosen Körper in den Armen. In dieser stillen Stunde spürte er zum ersten Mal in seinem Leben eine tiefe, lähmende Angst.

Die Nacht brach herein, die Kälte kroch in seine Knochen, doch Henmann konnte nicht bleiben. Er legte den toten Körper seines Bruders vorsichtig auf das Pferd, band ihn fest und ritt los, zurück zum Schloss. Doch bevor er weit kam, erblickte er plötzlich den Wolf. Das Entsetzen lähmte ihn für einen Augenblick, doch dann kehrte seine Wut zurück, stärker denn je. Ohne zu zögern, stiess er seinem Pferd die Sporen in die Flanken und verfolgte das Tier durch den finsteren Wald.

Der Ritt war wild, der Pfad steinig und schwer. Doch Henmann liess nicht nach. Immer weiter trieb er sein Pferd, bis sie schliesslich in einem abgelegenen Talkessel ankamen. Hier hatte der Wolf keinen Ausweg mehr. Henmann sprang vom Pferd, stellte den leblosen Körper seines Bruders aufrecht an einen Felsblock und sprach zu ihm, als könne er ihn hören: «Schau, Gottfried, jetzt haben wir ihn!»

Mit wilder Entschlossenheit stürzte er sich auf das Tier. Der Kampf war erbittert, doch Henmann war von übermenschlicher Kraft erfüllt. Er würgte den Wolf mit blossen Händen, bis das Herz des Tieres aufhörte zu schlagen.

«Schau, Gottfried», flüsterte Henmann leise, während er den leblosen Körper des Wolfes zu den Füssen seines Bruders legte. «Hier liegt er.»

Er band beide Körper auf sein Pferd und ritt heim, von tiefem Schmerz erfüllt. Oft, wenn er später von dieser Nacht erzählte, standen ihm Tränen in den Augen, und er sprach mit bebender Stimme: «Wenn Gottfried nur hätte sehen können, wie ich den Wolf erwürgte, er wäre in Frieden gestorben.»

Anmerkung:

Die alten Ortsbezeichnungen lauten heute wie folgt:

  • Bouenonowe = Bubendorf
  • Selboldisperch = Seltisberg
  • Lubesingin = Lupsingen
  • Civenne = Ziefen
  • Remlisperg = Ramlinsburg

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