Es war vor langer Zeit und man schrieb das Jahr 1347. Ein Onoldswiler Bauer sass auf seinem Acker. Die Sonne stand hoch und brannte erbarmungslos auf den Boden.

Plötzlich bemerkte er in der Ferne eine Gestalt. Zuerst dachte er, er hätte sich getäuscht. Doch beim zweiten Blick erkannte er: Es war ein Weibsbild. In ein weisses Gewand gehüllt, kam es langsam näher, die Schritte lang und schwerfällig, als ginge es auf Stelzen.

Dem Bauer wurde schwer ums Herz, und Angst durchfuhr seine Glieder. Er wollte fliehen, doch ehe er es konnte, ergriff ihn das Weib mit dürren, kalten Armen. «Kennst du mich, Bauer? Ich bin die Pest!» sprach das unheimliche Wesen mit leiser, hohler Stimme. «Nimm mich auf deine Schultern und trag mich durchs Land. Kein Dorf, keine Stadt soll mir entkommen, denn überall will ich hin. Doch du, fürchte dich nicht – dich werde ich verschonen. Du bleibst gesund, auch wenn die Toten rings um dich liegen.»

Kaum hatte die Pest diese Worte gesprochen, schlang sie ihre langen, knochigen Arme um den Hals des erschrockenen Mannes und setzte sich federleicht auf seinen Rücken. Der Bauer, obwohl von Schrecken erfüllt, ging vorwärts, doch merkte er bald, dass er die Pest kaum spürte, so leicht war ihre Last. Immer noch sass sie fest auf seinem Rücken, als er auf das Städtchen Waldenburg zuschritt.

In Waldenburg herrschte Freude. Auf den Gassen tanzten die Menschen, Musik erfüllte die Luft, und heller Frohsinn lag über der Stadt. Doch kaum hatte der Bauer den Marktplatz am oberen Tor betreten, wehte das weisse Weib mit einem Tuch, und wie von Geisterhand erlosch die Freude. Die Musik verstummte, und die Menschen begannen, in Panik auseinanderzuströmen. Mit Schrecken sah der Bauer, wie die Särge sich häuften, die Glocken düster läuteten, und der Friedhof sich mit bebender Eile füllte. Bald war kein Platz mehr für die Toten, und auf dem Marktplatz türmten sich die nackten Leichen, unbestattet und unbeweint.

Die Pest, unermüdlich auf dem Rücken des Bauern, trieb ihn weiter, durch die Dörfer und Felder. Wo immer er hinkam, folgten Tod und Elend. Häuser standen leer, Menschen flohen mit bleichen Gesichtern, und in den Wäldern und auf den Landstrassen erklangen die klagenden Schreie der Sterbenden. Der Bauer hörte dies alles mit schwerem Herzen, doch er selbst blieb, wie die Pest versprochen hatte, unversehrt.

Endlich erreichte er wieder Onoldswil, wo sein Haus stand, am Rande einer stillen Häuserzeile. Dort lebten seine Frau, seine Kinder und seine alten Eltern. Als er das Weibsbild auf seinem Rücken spürte und den tödlichen Fluch, den es mit sich brachte, wurde ihm das Herz schwer. Er wusste, dass er sein Heim, seine Familie, nicht ins Verderben führen durfte. Mit aller Kraft hielt er das Gespenst fest, sodass es nicht von seinem Rücken gleiten konnte, und schritt festen Schrittes an seiner Häuserzeile vorbei.

Vor ihm glitzerte die Frenke im Sonnenlicht, damals noch ein wild reissender Bach, und hinter ihm erhoben sich die dicht belaubten Wälder. Plötzlich fasste er einen verzweifelten Entschluss. Ohne zu zögern, lief er auf die Frenke zu und sprang hinein. Mit einem letzten verzweifelten Ruck versuchte er, die Pest unter Wasser zu ziehen, um sie zu ertränken und Onoldswil vor dem Fluch zu bewahren.

Doch die Pest war federleicht und konnte nicht sinken. Als der Bauer ertrank, erhob sich das Gespenst aus den Fluten und, erschrocken von seinem Mut, floh es in die Wälder, bis hoch hinauf zu den «Neunbrunnen».

Seit jenem Tag kehrte die Pest nie wieder nach Onoldswil zurück. Durch den Mut des Mannes, der seine Familie rettete, blieb auch das Dorf verschont. Die Häuserzeile, an der er vorbeigegangen war, nennt man seither «Schwarzhäuser» – zur Erinnerung an die düsteren Tage und an den Bauern, der durch sein Opfer nicht nur seine Lieben, sondern auch Onoldswil vor dem Untergang bewahrte.

 

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