Ein junger Bauer, dem das Glück bisher nicht hold war, machte eine kurze Pause von seiner harten Arbeit und wischte sich den Schweiss aus dem Gesicht.

Da schlich eine alte Hexe vorbei und rief ihm zu: «Warum quälst du dich so, wenn es doch zu nichts führt? Geh zwei Tage geradeaus, bis du zu einer grossen Tanne kommst, die allein im Wald steht und alle anderen Bäume überragt. Wenn du sie fällst, ist dein Glück gemacht.»

Der Bauer liess sich das nicht zweimal sagen, nahm seine Axt und machte sich auf den Weg. Nach zwei Tagen fand er die Tanne und begann sofort, sie zu fällen. In dem Moment, Als der Baum mit einem gewaltigen Krachen zu Boden stürzte, löste sich aus der Spitze ein Nest mit zwei Eiern und fiel herab. Die Eier rollten auf den Boden und zerbrachen. Aus dem einen Ei schlüpfte ein junger Adler, aus dem anderen fiel ein kleiner goldener Ring.

Der Adler wuchs rasch heran, bis er etwa die Grösse eines halben Mannes erreicht hatte. Er breitete seine Flügel aus, als wolle er sie testen, erhob sich ein Stück in die Luft und rief: «Du hast mich befreit. Nimm zum Dank den Ring aus dem anderen Ei. Es ist ein Wunschring: Dreh ihn am Finger und sprich deinen Wunsch aus, dann wird er sofort in Erfüllung gehen. Aber bedenke, dass der Ring nur einen einzigen Wunsch erfüllt. Überlege dir also gut, was du dir wünschst, damit du es später nicht bereust.»

Daraufhin erhob sich der Adler hoch in die Luft, kreiste lange über dem Kopf des Bauern und schoss dann wie ein Pfeil in Richtung Osten davon. Der Bauer steckte den Ring an den Finger und machte sich auf den Heimweg.

Am Abend erreichte er eine Stadt, in der ein Goldschmied vor seinem Laden stand und prächtige Ringe feilbot. Der Bauer zeigte ihm seinen Ring und fragte, was er wohl wert sei. «Einen Pappenstiel», sagte der Goldschmied. Da lachte der Bauer und erzählte ihm, dass es ein Wunschring sei, viel wertvoller als all die Ringe, die der Goldschmied hatte. Doch der Goldschmied war ein hinterlistiger Mann. Er lud den Bauern ein, bei ihm zu übernachten, und sagte: «Einen Gast wie dich zu bewirten, bringt Glück. Bleib bei mir.» Er bewirtete ihn mit köstlichem Essen, Wein und freundlichen Worten.

In der Nacht zog er dem Bauern heimlich den Ring vom Finger und ersetzte ihn durch einen ganz gewöhnlichen. Am nächsten Morgen konnte es der Goldschmied kaum erwarten, dass der Bauer aufbrach. Schon in den frühen Morgenstunden weckte er ihn und sprach: «Du hast noch einen langen Weg vor dir. Es ist besser, wenn du früh aufbrichst.» Kaum war der Bauer fort, schloss der Goldschmied die Läden seines Ladens, riegelte die Tür ab und stellte sich mitten in den Raum. Er drehte den Ring und rief: «Ich will sofort hunderttausend Taler haben!» Kaum hatte er das gesagt, begann es, Taler zu regnen – harte, glänzende Münzen, die auf seinen Kopf, seine Schultern und Arme prasselten. Er schrie vor Schmerzen und wollte zur Tür rennen, doch bevor er sie erreichte, brach er, am ganzen Körper blutend, zu Boden. Der Geldregen hörte jedoch nicht auf, und bald brach der Fussboden unter der Last der Taler zusammen, und der Goldschmied stürzte samt dem Geld in den Keller. Schliesslich regnete es weiter, bis die hunderttausend Taler voll waren. Der Goldschmied lag tot im Keller, begraben unter dem vielen Geld.

Die Nachbarn eilten herbei, als sie den Lärm hörten. Als sie den Goldschmied tot unter dem vielen Geld fanden, sagten sie: «Es ist ein Unglück, wenn der Segen so heftig kommt.» Die Erben kamen und teilten das Vermögen unter sich auf.

Der Bauer ging derweil glücklich nach Hause und zeigte seiner Frau den Ring. «Nun kann uns nichts mehr fehlen», sagte er. «Unser Glück ist gemacht. Wir sollten gut überlegen, was wir uns wünschen.» Doch seine Frau wusste sofort Rat. «Was hältst du davon, wenn wir uns noch etwas Land wünschen? Wir haben so wenig, und da ist noch ein kleiner Flecken zwischen unseren Feldern, den wir gut gebrauchen könnten.» – «Das wäre doch schade», erwiderte der Mann. «Wenn wir ein Jahr fleissig arbeiten und etwas Glück haben, können wir das Stück Land vielleicht kaufen.»

Sie arbeiteten ein Jahr lang hart, und die Ernte war besser als je zuvor, sodass sie sich das Stück Land kaufen konnten und sogar noch etwas Geld übrig hatten. «Siehst du», sagte der Mann, «wir haben das Land, und der Wunsch ist noch immer nicht verbraucht.» Da schlug seine Frau vor, dass sie sich eine Kuh und ein Pferd wünschen sollten. «Was sollen wir unseren Wunsch für so etwas Alltägliches verschwenden?», sagte der Mann. «Die Kuh und das Pferd können wir uns auch so verdienen.» Und tatsächlich, nach einem weiteren Jahr hatten sie eine Kuh und ein Pferd.

Der Bauer war zufrieden und sagte: «Noch ein Jahr gespart, und trotzdem haben wir alles, was wir uns gewünscht haben.» Doch seine Frau drängte ihn immer wieder, den Wunsch endlich zu nutzen. «Früher hast du ständig geklagt und dir alles Mögliche gewünscht, und jetzt, wo du es haben könntest, arbeitest du weiter wie bisher und lässt die besten Jahre verstreichen», sagte sie. «Du könntest König, Kaiser oder Graf sein, deine Schatztruhen voll Gold haben, aber du kannst dich nicht entscheiden, was du dir wünschst!»

«Lass dein Drängen», entgegnete der Bauer. «Wir sind beide noch jung, und das Leben ist lang. Der Wunsch ist schnell aufgebraucht, und wer weiss, wann wir den Ring vielleicht wirklich brauchen. Fehlt uns denn etwas? Seit wir den Ring haben, geht es uns doch besser als je zuvor. Lass uns abwarten.» Damit hatte das Thema ein Ende, und es schien wirklich, als ob der Ring dem Bauern Segen brachte. Jahr für Jahr wurden die Scheunen voller, und der Bauer wurde wohlhabend.

Die Jahre vergingen, und der Bauer und seine Frau wurden alt. Der Wunsch blieb ungenutzt, und schliesslich starben beide in derselben Nacht. Ihre Kinder und Enkel versammelten sich um die Särge und weinten. Als eines der Kinder den Ring abziehen und aufbewahren wollte, sagte der älteste Sohn: «Lasst den Vater seinen Ring mit ins Grab nehmen. Er hat sein Leben lang sein Geheimnis mit ihm geteilt, und es ist ein wertvolles Andenken. Auch die Mutter betrachtete den Ring oft, am Ende hat sie ihn dem Vater in jungen Jahren geschenkt.»

So wurde der alte Bauer mit seinem Ring begraben – ein Wunschring, der nie verwendet wurde, und doch mehr Glück brachte, als sich ein Mensch nur wünschen kann. Denn es ist so eine Sache mit dem, was richtig und was falsch ist: Ein schlechtes Ding in guten Händen ist oft viel mehr wert als ein gutes Ding in den falschen.

 

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