Das Christuskind und der arme Waisenjunge

Vor langer Zeit, in einer Stadt mit einem unaussprechlichen Namen, lebte einmal ein kleiner Junge von sieben Jahren. Elias hiess er und war Waise von Vater und Mutter.

Eine alte Tante hatte ihn aufgenommen, eine harte und geizige Person, die ihren Neffen nur zum Neujahr küsste und jeden Teller Suppe, den sie ihm gönnte, mit einem schweren Seufzer begleitete.

Der arme Kleine hatte aber eine glückliche Natur und liebte die Alte so, wie sie war, auch wenn sie ihm schreckliche Angst einflösste und er die Warze, die auf ihrer Nase sass, nicht ansehen konnte, ohne dabei vor Grauen zu zittern. Die Alte galt als steinreich in der Stadt und man wusste von ihr, dass sie ihre Goldstücke wohlbehalten in einem alten Wollstrumpf aufbewahrte. Sie hatte es daher nicht gewagt, das Kind in die Armenschule zu schicken, hatte aber mit dem Schulmeister so um den Preis gehandelt, dass dieser sich beleidigt fühlte, einen so schlecht gekleideten und schlecht zahlenden Jungen unterrichten zu müssen.

Er bestrafte ihn daher oft ungerechterweise und bezeichnete ihn zum Spott seiner Mitschüler als Dummkopf, so dass die Herrensöhnchen aus dem armen Waisenknaben eine wahre Zielscheibe des Spottes gemacht hatten. So kam es, dass sich Elias unglücklich fühlte wie die Steine des Weges und sich in allen Ecken versteckte, als Weihnachten herannahte.

Am Vorabend des grossen Tages hatte der Lehrer alle seine Schüler zur Mitternachtsmesse zu führen, sie danach wieder zu begleiten und ihren Eltern zurückzubringen. Da der Winter in jenem Jahr besonders hart war und seit vielen Tagen grosse Mengen Schnee gefallen waren, erschienen die Kinder alle wohlverpackt in Pelzmützen, die sie tief über die Ohren gestülpt trugen, zwei oder gar drei dicke Westen, Handschuhe aus warmer Wolle und genagelte Stiefel mit dicken Sohlen. Nur der kleine Elias kam in seiner dünnen Werktags- und Sonntagskleidung zugleich und mit an den Füssen nur seine schweren, plumpen Holzschuhe.

Die bösen Buben, als sie die traurige, bäuerliche Erscheinung sahen, fielen über ihn her mit tausend Spässen. Aber der Waise war so damit beschäftigt, seine steif gefrorenen Finger warm zu blasen und litt so arg an seinen Frostbeulen, dass er sich dessen kaum achtete. Und die Gesellschaft der Kinder, den Magister voran, machte sich auf den Weg zur Kirche.

Dort war es angenehm warm und alles glänzte im Scheine der brennenden Kerzen. Die Schulbuben, von der Wärme angeregt, benutzten die Gelegenheit, um beim Brausen der Orgel und dem Schallen der Choräle mit halblauter Stimme zu schwatzen. Sie rühmten zum Voraus die Kostbarkeiten, die sie zu Hause erwarten sollten. Der Sohn des Bürgermeisters hatte, bevor er weggegangen war, eine riesige Gans, mit Trüffeln gespickt, in der Küche gesehen. Beim Gerichtsdiener stand in einer Kiste ein kleiner Tannenbaum, an dessen Zweigen goldene Orangen, Zuckerwerk und Spielzeug hingen.

Aber dann erzählten die Kinder untereinander vor allem von den Geschenken, die sie in ihren Holzschuhen finden würden, denn natürlich werden sie sie alle recht sorgfältig vor dem grossen Kamin bereitstellen vor dem Zubettgehen! Und in den Augen der wie eine Bande ausgelassener Mäuse tobenden Lausbuben blitzte die Vorfreude über das rosa Seidenpapier, in dem die Süssigkeiten verpackt sein werden, über die Bleisoldaten, in Reihen aufgestellt in einer Lade, über die Holztierchen, denen noch der Geruch frischer Farbe anhaften wird, über funkelnde, neue Schlittschuhe.

Der kleine Elias, er wusste wohl aus Gewohnheit, dass der alte Geizhals, seine Tante, ihn wie immer ohne Nachtmahl zu Bett schicken wird. Aber in seiner Naivität und mit der Gewissheit, das ganze Jahr hindurch ebenso fleissig und ebenso folgsam wie die anderen gewesen zu sein, hoffte er doch, das Christkind werde ihn nicht vergessen. Er nahm sich daher vor, gleich nach dem Gottesdienst seine Holzschuhe ebenfalls vor dem Kamin bereitzustellen.

Nachdem die Mitternachtsmesse beendet war, zerstreuten sich die Gläubigen, voller Ungeduld das kommende Fest zu erwarten; und auch die Kinder, immer zwei und zwei, mit dem Lehrer voran, verliessen die Kirche. Aber unter dem Torbogen, auf einer steinernen Bank, sass ein Kind. In eine weisse, wollene Decke gehüllt sass es da und – schlief. Es war barfuss, trotz der grimmigen Kälte. Es war kein Bettlerkind, denn sein Kleid war rein und weiss, und dicht neben ihm, auf der Erde, lagen zusammengebunden ein Winkelmass, eine Axt, ein Hobel und alle Werkzeuge eines Zimmermannslehrlings.

Vom Licht der Sterne beleuchtet, hatte sein Gesichtchen mit den geschlossenen Augen einen Ausdruck göttlicher Sanftmut und seine langen lockigen, rötlich schimmernden Haare lagen um seine Stirn wie ein Heiligenschein. Aber die armen, nackten Kinderfüsschen, von der bissigen Kälte dieser grausamen Dezembernacht ganz blaugefroren, boten einen gar traurigen Anblick! Die Schulbuben, warm gekleidet und gestiefelt, gingen unberührt an dem unbekannten Kinde vorbei. Einige unter ihnen, Söhne der höheren Stadtbürger, sahen sogar mit Blicken, in denen sich die ganze Verachtung der Reichen für die Armen las, auf den kleinen Vagabunden herab.

Nur der kleine Elias, der als letzter aus der Kirche getreten war, stand gerührt vor dem schönen schlafenden Kind. «Aber das ist doch entsetzlich», sagte sich die Waise, «der arme Kleine geht barfuss bei solch beissendem Wetter. Und, noch schlimmer, er hat nicht einmal einen Holzschuh, den er über Nacht bereitstellen kann, damit das Christkind ihm etwas hineinlegt, um seine Not zu lindern.» Und, dem Ruf seines Herzens folgend, zog er den Holzschuh von seinem rechten Fusse ab, stellte ihn vor das schlafende Kind und, halb hinkend, halb hüpfend und seinen Strumpf im Schnee durchtränkend, kehrte er zu seiner Tante zurück.

«Da sieh nur einer diesen Tunichtgut!» rief die Alte aus, wütend über die Rückkehr des entschuhten Kindes. «Was hast du mit deinem Holzschuh gemacht, du Unglückseliger?» Der kleine Elias war des Lügens nicht gewohnt und obschon die Angst vor den Schlägen der Alten ihn packte, versuchte er trotzdem, stotternd sein Erlebnis zu erzählen. Aber das alte Weib antwortete ihm nur mit einem bösen Lachen.

«So, so, der Herr zieht also seine Schuhe aus für die Bettler! Und der Herr verschenkt einen seiner Holzschuhe an einen anderen Barfussgänger! Das zum Beispiel ist mir wahrlich das Neueste! Aber wenn dem nun so ist, so lassen wir eben den Holzschuh, der dir noch bleibt, heute Nacht vor dem Kamin stehen und dann werden wir ja schon sehen, ob das Christkind nicht etwas hineinlegen wird, mit dem ich dich morgen früh tüchtig durchprügeln kann. Morgen gibt es für dich sowieso nur Wasser und trockenes Brot und ich garantiere dir, dass du das nächste Mal nicht wieder deine Schuhe dem erstbesten Vagabunden verschenken wirst.»

Worauf das alte Weib dem Kind ein paar gewaltige Ohrfeigen herunterhieb und es in seine Dachkammer auf seinen Strohsack beförderte. In seiner Verzweiflung legte sich das Kind im Finsteren nieder und war auch bald auf seinem tränendurchtränkten Kopfkissen eingeschlafen.

Als aber am anderen Morgen die Kälte und ein böser Katarrh die Alte frühzeitig wachrüttelten und sie in die niedrige Küche hinuntergestiegen war, fand sie – o Wunder! – den Kamin mit funkelnden Spielsachen, herrlichen Süssigkeiten und Reichtümern verschiedener Art gefüllt. Davor, vor all diesen Schätzen, stand neben dem linken, allein übrig gebliebenen Holzschuh, nun auch der rechte da, jener rechte Holzschuh, den der kleine Elias dem Barfussgänger geschenkt hatte!

Von den Schreien der Alten geweckt, sprang das Kind eilends herbei und bekundete in seliger Kinderart seine grosse Freude vor diesen wunderherrlichen Geschenken. Dann traten sie beide vor die Tür, denn man hatte draussen frohes Lachen gehört. Was sollte das bedeuten? Alle Klatschweiber der Stadt hatten sich um den Brunnen versammelt! Aber was war geschehen? Ach, eine ganz aussergewöhnliche und lustige Sache! Alle Kinder der Reichen, die, welche von ihren Eltern mit kostbaren Geschenken überrascht werden sollten, hatten nur eine Rute in ihren Holzschuhen gefunden!

Als das Waisenkind und die Alte an all den Reichtum dachten, der ihrer im Kamin wartete, wurden sie von Schrecken ergriffen. Aber da tauchte plötzlich der Herr Pfarrer in der Menge auf. Grösste Bestürzung war auf seinem Antlitz zu lesen. Vor der Kirchentür, dort wo am Vorabend ein Kind in weisse Kleider gehüllt, aber trotz der Kälte ohne Schuhe, sein müdes Haupt niedergelegt hatte, dort hatte der Pfarrer einen in den Stein gemeisselten goldenen Reif gesehen. Und als die Leute das Wunder erfuhren, bekreuzigten sie sich ehrfürchtig und demütig, denn sie verstanden nun, dass das schöne schlafende Kind, das die Werkzeuge eines Zimmermanns mit sich trug, das Christuskind war. Es war gekommen zu den Menschen, ihnen gleich zu werden, die Lieblosen zu belehren und das Vertrauen und die Güte aber eines anderen Kindes, des Waisenkindes, zu belohnen.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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