Der österreichische Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl (1897–1973) kann mich mit seinen weisen Worten trösten, wenn ich mich wieder einmal in der Komplexitätsfalle verfangen habe.
Seine geflügelte Antwort darauf lautet schlicht und ergreifend: «Alles Wahre ist einfach.» Das mag in manchen Ohren seltsam klingen – schliesslich ist unsere Welt so kompliziert und unübersichtlich geworden. Doch vielleicht liegt gerade darin der Reiz dieser Aussage: dass sie wie ein Ruhepol inmitten des Getöses der Zeit wirken kann.
Kindheitssehnsucht nach dem Emmental
Als Kind war das Emmental für mich die liebste Gegend in der Schweiz. Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, wenn wir mit der Familie sonntags einen Ausflug dorthin unternahmen: die sanften Hügel, die weit verstreuten Bauernhäuser mit ihren tiefgezogenen Walmdächern, der würzige Duft von Heu und Holzrauch in der Luft. Nichts hätte mich damals glücklicher gemacht, als selbst im Emmental zu wohnen.
Mit roten Wangen habe ich die Bücher der Emmentaler Autorin Elisabeth Müller verschlungen (ja, auch die Mädchenbücher!) und mich an den Abenteuern der «Sechs Kummerbuben» ergötzt. Diese Geschichten waren für mich nicht nur Unterhaltung, sondern eine Welt, in die ich eintauchen konnte. Das Emmental war für mich nicht einfach nur ein Landstrich, sondern ein Sehnsuchtsort.
Trotz meiner frühen Begeisterung für die Region hatte ich jedoch nie eine besondere Vorliebe für den berühmten Emmentaler Käse. Während andere genüsslich ihre Löcher im Käse suchten, hätte ich mich viel lieber an einem Tilsiter gütlich getan – jenem Käse, den damals die «besseren Leute» bevorzugten.
Das Emmental – eine prägende Kulturlandschaft
Schliesslich wurde mein Kindheitstraum wahr: Über zwanzig Jahre habe ich im Emmental gelebt. Auch wenn ich heute nicht mehr dort wohne, begleitet mich diese Landschaft weiterhin – sei es in Erinnerungen, sei es durch meine Auseinandersetzung mit der Schweizer Volkskultur. Je intensiver ich mich mit ländlichen Traditionen beschäftige, desto mehr wird mir bewusst, wie prägend das Emmental für die kulturelle Identität der Schweiz ist.
Besonders in der Ländlermusik ist der Einfluss dieser Region nicht zu übersehen. Kaum eine andere Schweizer Musikrichtung ist so stark mit dem Emmental verbunden. Ihr Durchbruch wäre ohne ein unscheinbares, aber prägendes Instrument vielleicht gar nicht möglich gewesen: das «Langnauerli» – eine kleine Handharmonika, die einst im Emmental gefertigt wurde.
Ich möchte hier nicht auf die gesamte Entstehungsgeschichte dieses Instruments eingehen, sondern vielmehr einen Tipp geben: Im Regionalmuseum Langnau kann man eine nachgestellte Handharmonika-Manufaktur besichtigen, in der einst die berühmten «Langnauerli» hergestellt wurden. Es ist faszinierend zu sehen, mit wie viel Handwerkskunst diese Instrumente gefertigt wurden. Ein Besuch lohnt sich!
Die Kraft der Einfachheit in der Musik
Das «Langnauerli» verkörpert für mich das Schlichte, das Einfache. Doch einfach bedeutet keineswegs leicht – schon gar nicht in der Musik.
Vor einigen Jahren öffnete mir ein Meister dieses Instruments Augen und Ohren: Werner Aeschbacher, aufgewachsen – wie könnte es anders sein – im Emmental, genauer gesagt in Eggiwil. Ich erinnere mich noch gut an das erste Mal, als ich ihm lauschte: Wie er diesem kleinen Instrument die wundersamsten Tänzli-Melodien entlockte, mit einer Leichtigkeit, die nur grosse Könner besitzen. Dabei wurde mir etwas Entscheidendes bewusst: Gerade die einfache musikalische Struktur ist das grosse Geheimnis der Volksmusik.
Volksmusik wird von musikalisch Gebildeten oft als anspruchslos abgetan. Gewiss, sie ist formal simpel – doch das macht sie nicht einfältig. Es wäre ein Trugschluss, ihr die Einfachheit vorzuwerfen. Auch Mozart schätzen wir nicht geringer, nur weil seine Harmonik weniger komplex ist als die von Gustav Mahler.
Im Gegenteil: Die Volksmusik lebt von ihrer Schlichtheit, sie schöpft ihre Kraft aus der Reduktion. Wer sich auf sie einlässt, merkt bald, dass die Schönheit nicht in der Komplexität liegt, sondern in der Klarheit, in der Direktheit. Ein Tänzli kann mit nur wenigen Akkorden eine ganze Welt an Gefühlen vermitteln.
Alles Wahre ist einfach
Und so schliesst sich der Kreis zu Karl Heinrich Waggerl: «Alles Wahre ist einfach.»
Vielleicht liegt genau darin die grösste Herausforderung unserer Zeit – das Wahre im Einfachen zu erkennen und uns nicht von der Komplexität des Alltags davon ablenken zu lassen.
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