Die Näherin – Wenn der Tod das bringt, was das Leben verweigerte

Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich nach Freiheit gesehnt – nach einer Freiheit, die für sie immer nur ein ferner Gedanke geblieben war. Jetzt war sie frei. Nach Jahren der Knechtschaft, nach Jahren harter, stumpfsinniger Arbeit, nach unermesslichem Mühen und Verzicht. Frei – endlich frei!

Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, wie oft hatte sie es verdient, und wie lange hatte sie darauf gewartet!

Wenn man ihren Lebensweg zurückverfolgt, führt er weit in die Vergangenheit – in die Kindheit eines armen Mädchens. In einem schäbigen Stübchen wuchs sie auf, an der Seite einer schwächlichen Mutter, die vom ersten Sonnenstrahl bis zur dunkelsten Nacht sass und nähte. Die kleine Anna, gerade einmal vier Jahre alt, kannte keine Spielzeit. Stattdessen musste sie tun, was ihre kleinen, ungeübten Hände vermochten – manchmal mehr, als sie leisten konnte. Sie trug Verantwortung für ein Nachbarskind, bewachte es und erhielt dafür ein paar Eier, ein wenig Milch, ein Stück Brot. Doch das reichte nicht, um satt zu werden.

Mit sechs Jahren kam Anna in die Schule. Ihre Pflichten wurden dadurch nicht weniger – sie musste lernen, sich einzurichten. Acht lange Jahre vergingen so. Wenn die anderen Kinder fröhlich die Schultaschen einpackten und jubelten: «Hurra, wir haben frei!», stand Anna nur dabei, scheu und verwundert, denn für sie gab es keine Freiheit.

Zunächst nahm sie ihr Los ohne Aufbegehren hin. Sie kannte nichts anderes. Doch nach und nach keimte eine leise Sehnsucht in ihr: ein zaghaftes Hoffen, ein Wunsch – «Ich möchte auch einmal frei sein, nur für eine Woche, einen Tag, eine Stunde…» Doch die Not, die schwer auf ihr lastete, zertrat jede Hoffnung wie ein unerbittlicher Stiefel.

Als die Schule zu Ende war, begann für Anna die Lehrzeit bei ihrer Mutter. Nähen von früh bis spät, Tag für Tag, Woche für Woche. Nähen im Sommer bei strahlender Sonne, Nähen, während der Regen an die Scheiben prasselte, Nähen auch an Sonntagen, Nähen mit brennenden Augen, schmerzendem Rücken, mit einem Herzen voller Unrast. Immer nur Nähen.

Mit der Zeit kam ihre Jugendblüte – und dann ein Mann. Ein dunkles Augenpaar, das ihr tief in die Seele sah, eine warme Stimme, die von Zweisamkeit sprach. «Mach dich frei und komm mit mir», bat er. Aber Anna konnte nicht. «Meine Mutter – ich kann nicht», flüsterte sie. Der Mann wartete, so geduldig, wie Männer es eben tun. Dann ging er. Sie sah ihm nach, verzweifelt, die Hände zum Himmel erhoben, halb flehend, halb anklagend: «Mach mich frei, du – ich will frei sein!»

Vergessenheit senkte sich über ihr Leben. Sie nähte weiter, unermüdlich. Wenn sie erschöpft aufsah und lachende Kinder draussen entdeckte, dann seufzte sie leise. «Ach, wäre ich auch mal frei…» Doch ihre Sehnsucht hatte längst keine Kraft mehr.

Als ihre Mutter starb, war Anna alt geworden. Nun konnte sie über ihr Leben verfügen. Aber auch jetzt war sie nicht frei. Die Krankheit der Mutter hatte viele Schulden hinterlassen, die sie nun abtragen musste, um dereinst wenigstens für ihre eigene letzte Krankheit und ihr Grab zu sorgen. Sie hatte längst aufgehört, an eigenes Glück zu denken. Ihr einziges Ziel war nun der Frieden einer stillen, ungestörten Todesstunde.

Und diese kam – unerwartet, wie der Tod immer kommt. Anna war nicht lange krank. Ihr Körper hatte dem Leben nie viel entgegenzusetzen gehabt. Im Halbschlaf zwischen Wachen und Träumen glitt ihr Geist zurück in die Kindheit. Sie hörte das fröhliche Lärmen der Kinder auf dem Schulhof, während sie selbst in der Ecke stand und hastig versuchte zu lernen, was zu Hause keine Zeit gehabt hatte. Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht – gottlob, kein Lehrer würde mehr ihre Arbeit kontrollieren, kein Lernen mehr, und – welch Glück – kein Nähen mehr!

Bald, so hoffte sie, würde sie frei sein. Und dann – in einer anderen Welt, da käme das Schöne, die Vergeltung, der Lohn für ihren demütigen, treuen Fleiss. Das glaubte sie mit der schlichten Zuversicht einer Kind gebliebenen Seele. Denn anders – das durfte einfach nicht sein. Es musste doch Gerechtigkeit geben!

Bei diesem Gedanken erfüllte eine leise Freude ihr müdes Herz. Es war keine laute Freude, aber eine, die sie empfand wie das erste zarte Sonnenlicht an einem kalten Frühlingstag. Und so konnte sie dem Leben vergeben – für all das, was es ihr genommen hatte. Für diesen letzten, stillen Moment des Friedens.

Zufrieden und mit einem zarten Lächeln schlief sie ein.

Der Tod brachte ihr, was das Leben ihr so unbarmherzig versagt hatte. Er löste ihre kleine, müde Seele aus dem elenden Körper und schenkte ihr endlich die Freiheit, nach der sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte. Der Tod ist gerecht.

Nun war sie frei.

 

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Über

Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

FOLGEN

NEWSLETTER

BodeständiX
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.