Bekanntlich bin ich im mystischen Waldenburgertal aufgewachsen, umgeben von alten Geschichten und den Spuren früherer Generationen. Nach Jahren in anderen Gegenden hat es mich wieder hierher zurückgeführt – in dieses Tal, das nicht nur landschaftlich, sondern auch historisch seine eigenen Geschichten erzählt. Eine dieser Geschichten handelt von einem Mann, der die Zeit wortwörtlich ins Tal brachte: Gedeon Thommen.
Als Gedeon Thommen am 7. Dezember 1831 in Waldenburg zur Welt kommt, kann niemand ahnen, dass er einmal die Geschicke eines ganzen Tals verändern wird. Seine Familie ist angesehen, aber bescheiden. Sein Vater, Martin Thommen, stammt ursprünglich aus Eptingen. Dort wächst er auf und erlernt das Seilerhandwerk – ein für die damalige Zeit solides, aber keineswegs einträgliches Gewerbe.
Martin Thommen zieht nach Waldenburg, wo er 1825 das Bürgerrecht erwirbt und sich als Seiler niederlässt. Doch er ist mehr als ein einfacher Handwerker. Er interessiert sich für Politik, beteiligt sich aktiv an den turbulenten politischen Umwälzungen der 1830er Jahre und wird sogar Mitglied der provisorischen Regierung von Basel-Landschaft, als sich der Kanton von Basel trennt. Später wird er Oberrichter und Präsident der Sparkasse von Waldenburg – ein angesehener Mann mit Einfluss, aber auch mit Gegnern.
In diesem Umfeld wächst Gedeon auf. Die Familie erlebt Höhen und Tiefen. Von den elf Kindern, die seine Eltern haben, sterben sechs früh. Auch zwei der drei Söhne überleben das Kindesalter nicht – nur Gedeon bleibt. Er entwickelt sich zum Hoffnungsträger der Familie.
Ein aussergewöhnlicher Schüler
Schon früh zeigt sich, dass Gedeon Thommen weit mehr als ein begabter Junge ist. In der Primarschule fällt er durch seine Klugheit, seinen Fleiss und seine Disziplin auf. Mit nur zehn Jahren wird er auf die Bezirksschule versetzt – eine Ausnahme für ein Kind seines Alters.
Dort hält er mühelos mit älteren Mitschülern Schritt und beeindruckt seine Lehrer so sehr, dass sie ihm ein herausragendes Abschlusszeugnis ausstellen. Darin wird ihm nicht nur Fleiss und Wissensdurst bescheinigt, sondern er wird ausdrücklich für eine höhere Ausbildung empfohlen.
Das ist für die damalige Zeit keineswegs selbstverständlich. Bildung ist für viele Kinder aus kleineren Orten in erster Linie eine Grundausbildung, die sie auf handwerkliche oder bäuerliche Berufe vorbereitet. Doch Thommens Familie erkennt sein Potenzial – und investiert in seine Zukunft.
Ausbildung in Aarau und Genf – Ein Kaufmann mit Weitblick
Nach der Bezirksschule wechselt er an die renommierte Kantonsschule Aarau, eine der führenden Bildungseinrichtungen der Schweiz. Dort erhält er eine umfassende Ausbildung, die ihn nicht nur akademisch, sondern auch in seiner Persönlichkeit prägt.
Doch Thommen will mehr. Er entscheidet sich für eine kaufmännische Laufbahn und geht für zwei weitere Jahre nach Genf, einem der wichtigsten Handelszentren der Schweiz. Dort sammelt er erste Erfahrungen im internationalen Geschäftsleben, lernt Fremdsprachen und entwickelt ein Gespür für wirtschaftliche Zusammenhänge.
Mit dieser Ausbildung steht ihm die Welt offen. Er könnte sich in Basel, Zürich oder im Ausland eine lukrative Position sichern. Doch er kehrt mit gerade einmal 19 Jahren zurück nach Waldenburg – ein Zeichen seines tiefen Heimatbezugs und vielleicht auch seines unbewussten Wunsches, das Städtchen zu verändern.
Waldenburg in der Krise – Ein Tal sucht eine Zukunft
Als Thommen nach Hause zurückkehrt, befindet sich das Waldenburgertal in einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale. Jahrhundertelang hat das Tal vom Transitverkehr über den Oberen Hauenstein gelebt. Doch nun umgeht die neue Eisenbahnlinie das Tal, und mit einem Schlag brechen die Einnahmen weg.
Die Auswirkungen sind drastisch. Gasthäuser verlieren ihre Kundschaft, Handwerker haben kaum noch Aufträge, viele Familien kämpfen ums Überleben. Manche sehen keinen anderen Ausweg, als nach Amerika auszuwandern – eine für viele riskante, aber hoffnungsvolle Entscheidung.
Doch einige Bürger wollen sich dem Niedergang nicht einfach hingeben. Sie suchen nach neuen Möglichkeiten, um das Tal wirtschaftlich wiederzubeleben. Eine Idee setzt sich durch: Die Uhrenindustrie.
Der mutige Schritt in die Uhrenwelt
1853 fasst die Gemeinde Waldenburg einen mutigen Beschluss: Sie will eine eigene Uhrenproduktion aufbauen. Man orientiert sich am benachbarten Jura, wo die Uhrmacherei floriert. Die Gemeinde investiert 10.000 Franken in die Gründung der «Société d’Horlogerie à Waldenburg» und setzt alles auf diese Karte.
Doch schon bald zeigt sich, dass es an Fachwissen fehlt. Die Produktion läuft schlecht, die angeworbenen Lehrmeister aus dem Jura betrachten die Gemeinde als bequeme Geldquelle und schöpfen sie rücksichtslos aus. Die Verluste häufen sich. Bis 1857 muss die Gemeinde über 40.000 Franken zuschiessen – für damalige Verhältnisse eine enorme Summe.
Es wird klar: Ohne eine erfahrene, geschäftstüchtige Führung kann die Uhrenfabrik nicht bestehen Und genau hier tritt Gedeon Thommen auf den Plan.
Vom Start-up zum Weltunternehmen
Gemeinsam mit Louis Tschopp, einem Uhrmacher aus Biel, kauft Thommen 1859 die angeschlagene Uhrenfabrik. Doch der Weg zum Erfolg ist steinig. Die Maschinen sind veraltet, das Kapital knapp, und die Konkurrenz aus dem Jura ist stark.
Doch Thommen hat eine Vision. Er setzt auf Qualität und Innovation. Während viele andere Hersteller noch auf reine Handarbeit setzen, beginnt er früh mit der Entwicklung von Maschinen für die Serienproduktion – ohne die Schweizer Präzision zu opfern.
Nach und nach wächst das Unternehmen. Thommen übernimmt schliesslich auch den Anteil von Tschopp und baut die Firma konsequent aus. Seine Uhren werden nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Ausland immer gefragter.
Ein Tal braucht eine Bahn
Doch Thommen weiss: Ohne eine bessere Verkehrsanbindung bleibt das Waldenburgertal wirtschaftlich benachteiligt. Er kämpft für den Bau einer Eisenbahn, die das Tal mit der Aussenwelt verbindet.
Jahrelang sammelt er Investoren, überzeugt politische Entscheidungsträger und trotzt zahllosen Widerständen. Kritiker halten das Projekt für zu teuer und zu riskant. Doch Thommen gibt nicht auf. 1880 ist es soweit: Die Waldenburgerbahn wird eröffnet – eine Schmalspurbahn, die das Tal mit Liestal verbindet.
Heute mag eine kleine Bahnstrecke unscheinbar wirken, doch damals war sie revolutionär. Ohne sie hätte sich die Uhrenindustrie im Waldenburgertal kaum halten können. Sie brachte Rohstoffe hinein und fertige Produkte hinaus in die Welt.
Ein Mann, der seine Heimat formte
Thommens Wirken geht weit über seine Fabrik und die Bahn hinaus. 26 Jahre lang ist er Mitglied des Landrats, ab 1875 sogar Nationalrat. Er engagiert sich für Bildung, Infrastruktur und das Wohl der Region.
Besonders am Herzen liegt ihm das Schulwesen. Als das alte Schulhaus in Waldenburg nicht mehr ausreicht, spendet er grosszügig für den Bau eines neuen Gebäudes. Er will den Kindern bessere Bildungschancen ermöglichen – eine Investition in die Zukunft.
Am 18. Dezember 1890 stirbt er, nur fünf Jahre nach dem Bau seiner Villa in Waldenburg (heute: Villa Gelpke)
Das Erbe von Gedeon Thommen
Er bewahrte das Waldenburgertal vor dem wirtschaftlichen Niedergang, brachte die Industrie in die Region und sicherte den Wohlstand für Generationen.
Der Visionär, der das Waldenburgertal rettete
Gedeon Thommen war kein gewöhnlicher Unternehmer. Er war ein Visionär, ein Kämpfer, ein Mann, der seine Heimat liebte und sie vor dem Abstieg bewahrte. Wo andere aufgaben, suchte er nach Lösungen. Wo andere Schwierigkeiten sahen, erkannte er Chancen.
Ohne ihn wäre das Waldenburgertal vielleicht in Vergessenheit geraten. Stattdessen wurde es zu einem Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie – ein Ort, der für Innovation und Fortschritt steht. Sein Leben zeigt eindrucksvoll, was ein Einzelner bewirken kann – wenn er den Mut hat, neue Wege zu gehen.
Und vielleicht ist genau das die grösste Lehre aus der Geschichte Gedeon Thommens: Die Zukunft gehört denen, die sie gestalten.
Guten Tag Hanspeter
Gut recherchiert. Kenne die Geschichte bestens, habe 10 Jahre in der Villa gelebt. Habe keinen Zugang mehr. Es gibt noch sehr viele Geschichten um dieses Haus. Gelpkes sind eine verrückte Familie. Ich wünsche Dir einen schönen Tag. – Peter
Danke Peter für Deinen Kommentar. Ja, diese Geschichten um die Gelpke Villa würden mich natürlich brennend interessieren.