Es gibt Geschichten, die älter wirken als sie sind – und doch zeitlos bleiben, gerade weil sie mit feinem Humor das Menschliche im Tierischen spiegeln. Lisa Wenger, eine Basler Kinderbuchautorin (Joggeli söll go Birli schüttle), schrieb in den 1930er-Jahren drei sogenannte «amoralische Märchen», darunter dieses kleine Meisterstück über ein neugieriges Lämmchen, das unbedingt wissen will, warum Schafe heiraten. Ich habe mir erlaubt, diese Geschichte sprachlich leicht zu entstauben, ohne ihr den ursprünglichen Witz zu nehmen. Wer aufmerksam liest, merkt: Hier geht es nicht nur um Schafe. Sondern um uns alle.
«Frau Mutter», fragte das junge Schäfchen an einem lauen Sommerabend, «warum haben Sie eigentlich geheiratet?»
«Das ist aber eine dumme Frage», schnappte die Cousine, ein robustes Mutterschaf mit etwas sprödem Temperament. «Warum heiratet man? Na ja – darum eben!»
«Darum?», hakte das Schäfchen nach. «Genau das will ich ja wissen. Was heisst denn dieses ‹darum›?»
Die Mutter überlegte kurz, dann blökte sie gelassen: «Ach Lämmchen, es gibt viele Gründe, warum man heiratet. Zum Beispiel – die Liebe.»
«Aha!», machte das Lämmchen ganz aufgeregt. «Dann haben Sie also aus Liebe geheiratet, Frau Mutter?»
«Bewahre!», lachte sie trocken. «Dazu war ich viel zu vernünftig.»
«Und die Cousine?»
«Ich? Nein, ich war schlicht zu alt.»
«Und meine älteste Schwester?», fragte das Schäfchen hoffnungsvoll weiter.
«Die war zu hässlich dafür», kam trocken die Antwort.
Das Lämmchen runzelte die Stirn – so weit das mit einer Schafstirn möglich ist – und murmelte: «Aber… wenn niemand aus Liebe heiratet… wer tut es denn dann?»
Die Mutter dachte lange nach, scharrte mit dem Vorderhuf, kratzte sich energisch mit dem Hinterbein an der Seite und riss schliesslich ein Kräutlein aus dem Boden. «Weisst du was? Ich weiss es wirklich nicht!»
«Aber warum sonst noch heiraten die Leute denn?», liess das Lämmchen nicht locker.
«Na ja, um einen warmen Stall zu haben. Gutes Futter. Und damit man eben ein ordentliches, verheiratetes, ehrbares Schaf ist.»
«Und sonst noch?»
«Lämmchen, du fragst zu viel!», schnaufte die Cousine.
«Aber wenn ich nicht frage, wie soll ich es denn sonst lernen?», entgegnete das Lämmchen trotzig.
«Warum man heiratet, wirst du schon früh genug erfahren», sagte die Cousine leise und etwas bedeutungsschwer.
«Ich jedenfalls», verkündete das Lämmchen stolz, «will aus Liebe heiraten. Das gefällt mir am besten!»
«Mir auch», murmelte die Mutter – nicht ohne ein kleines Seufzen –, und die Cousine meinte trocken: «Heirate du nur, Lämmchen. Ganz gleich, aus welchem Grund. Die Liebe kommt schon noch – irgendwann…»
«Ganz gleich zu wem!», rief höhnisch der alte Bock aus der Ecke.
«Setzt meinem Schäflein keine Dummheiten in den Kopf!», schimpfte der Vater-Bock. Seine Stimme war tief und klang wie das Knarren eines alten Stalltors.
«Herr Vater», sagte das Lämmchen neugierig, «dann sagen Sie doch mal: Warum haben Sie geheiratet? Aus Liebe? Wegen dem warmen Stall? Oder um ein ehrenwerter Bock zu sein? Ich würde es zu gerne wissen!»
«Lämmchen, Lämmchen», seufzte der Alte, «muss man denn wirklich alles wissen wollen?»
«Heraus mit der Sprache!», forderte die Cousine forsch.
Der alte Bock stemmte sich stolz in die Brust und sprach feierlich: «Ein rechter Bock vom alten Schlag heiratet aus einem einzigen Grund: um dem Staat zu dienen – und eine Familie zu gründen.»
«Mäh! Bäh!», spottete die Cousine.
«Das war aber schön gesagt, Herr Vater!», sagte das Lämmchen ehrfürchtig – und stellte seine Fragen fürs Erste ein.
Diese Geschichte rührt mich sehr, umso mehr, als sie genau den Grund schildert, den auch mein Vater einst nannte, als ich ihn fragte. Die Familie wurde gegründet, weil sich das steuerlich positiv auswirke.
Und wer immer aus Liebe heiratet – ich hoffe, ganz viele Menschen tun es aus diesem Grund -, der möge alles dazu tun, dass diese Liebe genährt wird.
Liebe Grüße & Danke für diese besondere Geschichte, C Stern
Es freut mich sehr, dass die Geschichte einen persönlichen Erinnerungsfaden berührt hat – gerade wenn es um so grundlegende Fragen wie Heirat und Liebe geht. Was der Vater nüchtern-pragmatisch erklärte, trifft in Lisa Wengers Text auf eine feine Mischung aus Ironie, Zärtlichkeit und zeitloser Wahrheit.
Nur wenige wissen heute noch, dass Lisa Wenger in den 1930er-Jahren zu den meistgelesenen Autorinnen der deutschsprachigen Schweiz gehörte. Ihre Bücher – mal poetisch, mal verschmitzt, mal tiefgründig – fanden den Weg in viele Haushalte. Und dennoch: Heute ist ihr Name fast vergessen.
Umso schöner, wenn ihre Geschichten wieder auf Resonanz stossen. Ich denke, sie hätte sich sehr über Deine Zeilen gefreut.
Liebe Grüsse
Hanspeter