2010 lebte ich für ein paar Monate in Wien. Ich war noch nicht lange dort, da machte ich mit ein paar Kumpels in einer urigen Gasthausbrauerei ab.
Wir trafen uns also da, frohgemut, und redeten über Gott, Göttinnen und die Welt. Dem vorzüglich eigengebrauten Bier – ich bevorzugte ein köstliches Rauchbier – sprachen wir tüchtig zu. Ein Krug gab sich dem anderen, und irgendwann wurde es so spät, dass ich mich, leicht angeschwipst vom Biergenuss, auf den Weg nach Hause machte.
Es war eine sternklare Nacht, und die kühle Luft half mir, meine leicht getrübten Sinne wachzurütteln. Doch das war auch bitter nötig, denn das Bier verlangte unnachgiebig nach Freiheit. Meine Blase sendete dringliche Signale aus, während ich durch die Strassen des 7. Bezirks eilte.
«Nur noch ein Stück», murmelte ich vor mich hin, obwohl ich selbst nicht wusste, wie weit «ein Stück» genau sein sollte. In der Ferne hörte ich das Surren einer Strassenbahn, das Klappern von Absätzen auf dem Gehsteig und das leise Murmeln von Nachtschwärmern, die an den Ecken der Gassen rauchten. Jede noch so kleine Bewegung schien plötzlich wie eine Prüfung meiner Geduld.
Dann kam der erste Rückschlag: Eine unschuldige Laterne, perfekt positioniert und einladend. «Hier ist mein Baumersatz,» dachte ich. Doch noch bevor ich die Lage genauer sondieren konnte, tauchte ein Pärchen auf, Arm in Arm, und sah mich argwöhnisch an. Mein Plan wurde jäh vereitelt, und ich trottete weiter.
Die Strassen Wiens waren an diesem Abend ein Labyrinth. Jede Abzweigung schien eine Sackgasse zu sein, und jedes Lokal, an dem ich vorbeikam, war entweder geschlossen oder zu fein, um sich dort mit meinem dringenden Problem vorzustellen. «Was würden sie nur sagen?» dachte ich mir. «Verzeihen Sie, kann ich Ihre edlen Marmortoiletten für eine Sekunde beanspruchen?» Ich musste leise über mich selbst lachen.
Nach einer Ewigkeit – es mögen fünf Minuten gewesen sein – entdeckte ich eine kleine, unscheinbare Bar. Die Fassade war mit Graffiti verziert, und durch das milchige Fenster konnte man schemenhaft ein paar müde Gestalten erkennen. «Egal, ein stiller Ort ist ein stiller Ort!» dachte ich und marschierte entschlossen hinein.
Die Bar war so schäbig, wie ich es erwartet hatte. Der Geruch von abgestandenem Bier und billigem Rauch hing in der Luft. Der Barkeeper, ein bulliger Mann mit einem skeptischen Blick, schaute auf, als ich hereinkam. Doch er sah wohl sofort den Ausdruck in meinen Augen – eine Mischung aus Verzweiflung und Demut. Mit einer wortlosen Geste deutete er auf eine unscheinbare Tür hinten links.
Endlich! Die Erlösung war zum Greifen nah. Ich eilte zur Tür, öffnete sie und stand… vor einem Besenschrank. «Verdammt!» fluchte ich innerlich. Der Barkeeper lachte kurz auf und winkte mir dann hektisch zu einer weiteren Tür. Diesmal war es der richtige Ort.
Die Erleichterung war grenzenlos. Es war, als hätte ich die Donau überquert oder den Gipfel eines Alpenbergs erklommen. Nie zuvor hatte ich einen so schäbigen, kalten Raum mit solch einer Dankbarkeit betreten. Die klebrigen Fliesen und das halbleere Seifenspendergehäuse waren mir vollkommen egal – ich war im Paradies.
Wieder draussen, gab ich dem Barkeeper ein grosszügiges Trinkgeld und nickte ihm zu. Er zwinkerte mir zu und sagte: «Na, Rauchbier? Das bringt jeden um den Verstand.»
Mein Weg nach Hause verlief danach wie in Trance. Ich konnte mich wieder auf die Schönheit der Stadt konzentrieren: die alten Fassaden, die kopfsteingepflasterten Strassen, das sanfte Licht der Laternen. Doch eine leise Lektion hallte in mir nach. In der Stadt zu leben, bedeutete, neue Regeln zu lernen. Vor allem die goldene Regel: Immer, wirklich immer vor dem Aufbruch noch einmal auf die Toilette gehen.
Zuhause angekommen, dachte ich an die stillen Wälder meiner Heimat. Wie einfach alles dort war! Dort brauchte man keine Bars oder Barkeeper, keine umständlichen Wege und keine Scham. Ein freundlicher Baum, das sanfte Rauschen der Blätter und ein Gefühl von Freiheit – mehr brauchte es nicht.
Ich schloss die Augen und lächelte. Wien war eine wunderschöne Stadt, keine Frage. Aber in diesem Moment vermisste ich die Einfachheit meiner ländlichen Wurzeln. Und mit diesem Gedanken schlief ich ein, fest entschlossen, beim nächsten Mal die Lektion des Rauchbieres nicht zu vergessen.
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