Die wundersame Nacht im Rehhag

In den Hügeln oberhalb des Diegtertals, direkt am Rand des dichten Hardwalds, lebte einst ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen Kindern.

Es waren harte Zeiten, und so hatte der Mann irgendwann gezwungenermassen bei umherziehenden Krämern etwas Geld geliehen. Doch wie das Schicksal es wollte, kam der Tag der Abrechnung schneller als erwartet, und so klopften die Krämer eines späten Abends an die Tür, um ihre Schulden einzufordern.

Der Holzhacker stand ratlos da, denn sein Besitz war karg – ein paar Scheffel Äpfel, Erdäpfel und Korn waren alles, was er hatte. Doch die Krämer liessen sich nicht erweichen. Schnell rafften sie die wenigen Vorräte des Holzhackers in drei Bündel zusammen und machten sich ohne ein weiteres Wort davon. Bitten und Weinen halfen da nichts mehr. Traurig sassen Mann und Frau in der Stube und grübelten über ihr Schicksal. Doch in der Nebenkammer, wo die drei Söhne lagen, hörten die Buben alles mit an, ihre Augen weit geöffnet. Der älteste von ihnen, ein kluger und mutiger Junge, hatte eine Idee. «Wir könnten doch die Buckligen bitten gehen», flüsterte er, und die beiden anderen stimmten ihm zu.

So schlüpften die drei leise in ihre Kleidung und schlichen hinaus in die Nacht. Der Mondvater, neugierig wie immer, lugte gerade aus den Wolkenkissen hervor. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und fragte sich, was diese kleinen Nachtschwärmer wohl so spät noch draussen zu suchen hätten. Doch die Buben liessen sich nicht beirren und bogen in den oberen Karrenweg ein. Bald darauf sahen sie die drei Krämer am Strassenrand kauern; jeder hatte sein Bündel vor sich und überlegte wohl, wie viel ihre Beute wohl einbringen würde.

Der älteste der Buben nahm allen Mut zusammen und bat höflich um ein paar Erdäpfel, damit sie morgen nicht hungrig am Tisch sitzen müssten. Der zweite Junge bat um etwas Mehl, damit die Mutter Brot backen könne, und der jüngste wollte ein paar Äpfel, weil er doch so gerne Apfelmus esse. Doch kaum hatten die drei ihre Wünsche geäussert, als sie barsch abgewiesen wurden. «Macht euch fort», knurrte einer der Krämer. «Für solches Bettelvolk sind Haselstöcke gewachsen!»

Einer der Buben stotterte daraufhin, dass sie den Krämern gern ein Stück des Weges helfen würden, wenn sie sich damit eine kleine Wegzehrung verdienen könnten. Die Krämer schauten sich kurz an, zwinkerten und waren einverstanden.

Die Bündel waren schwer, und bald wurden den kleinen Helfern die Beine müde und der Nacken steif, aber sie hielten tapfer durch, bis sie die breite Talstrasse erreichten, wo die Felsen so nahe zusammenrücken, dass man glaubt, es gäbe kein Durchkommen. Dort lehnten die Krämer ihre Bündel ans Gestein, und die Buben atmeten erleichtert auf, streckten die Hände aus, um ihren Lohn zu empfangen. Doch statt einer Belohnung hörten sie nur höhnisches Lachen: «Geht zu eurem Vater und holt euch euren Verdienst für die verlorenen Zinsen!»

Die Augen der Buben wurden trüb, wie wenn die Stubenfenster im Winter von der Kälte beschlagen, und schon wollten die Tränen rollen, als plötzlich, wie aus dem Fels gezaubert, eine schneeweisse Jungfrau vor ihnen stand. Mit einer sanften Bewegung liess sie die Knoten der Bündel aufspringen und reichte den Kindern Äpfel, Erdäpfel und Korn – so viel, dass ihre Hosentaschen überquollen. Die Krämer standen sprachlos mit offenen Mäulern da.

Mit einer abweisenden Geste deutete die Jungfrau auf die Krämer und sprach mit fester Stimme: «Geht nach allen Winden, jeder dem anderen fremd. Keiner kehre wieder. Eure Bündel aber sollen zu Stein werden, hart wie eure Herzen.» Die drei Buckligen stoben davon, als wäre der Teufel hinter ihnen her.

Die Kinder hingegen wurden von der Fee sanft bei der Hand genommen. Sie lächelte ihnen zu und sagte, dass sie heute Nacht ein Fest mit den Tieren des Rehhags feiern dürften. Alle Müdigkeit verflog, und es war, als würden die Buben über die Fluren schweben, so leichtfüssig eilten sie mit der Fee dem Rehhag entgegen. Kaum hatten sie den Wald erreicht, als ein tausendfaches Freudenblöken erscholl. Denn nun wurde den Hirsch- und Rehherden die Weidensaftsuppe serviert, gefolgt von Heublumenkuchen mit einem salzigen Guss.

Während das fröhliche Schmatzen und Lecken begann, erzählte der älteste Hirsch ein Märchen von einem verzauberten Jäger, dessen Flinte niemals traf. Danach rüsteten sich die Rehböcke für den Festtanz. Ihre Geweihzacken wurden mit Zauberwachs bestrichen, sodass sie wie kleine Lichter funkelten. In einem leichtfüssigen Reigen, voll von Sprüngen und Drehungen, tanzten die schlanken Tiere, dass die Kerzen auf ihren Geweihen wie Irrlichter flackerten. Damit der Mondenschein das Schauspiel nicht störte, zog der Mondvater die Wolkenvorhänge zu.

Die drei Buben fühlten sich wie in einem Traum. Mit grossen Augen und roten Wangen standen sie da, bis plötzlich ein paar Rehböcke heransprangen, sie sanft zwischen die Beine nahmen und sie schnur-stracks zurück vor das Elternhaus trugen. Ehe die Kinder sich bedanken konnten, waren die flinken Rehtiere schon wieder verschwunden.

Leise schlichen die drei in die Stube, kramten die gesammelten Früchte hervor und stapelten sie zu kleinen Haufen. Doch welch ein Wunder! Aus den Äpfeln funkelte Gold, das Korn glitzerte wie Perlen, und die Erdäpfel schimmerten silbrig. Erst jetzt wurde den Buben klar, dass die Fee sie mit purem Gold, schwerem Silber und echten Perlen beschenkt hatte.

Als die Eltern das Glänzen sahen, sprangen sie aus den Betten, rieben sich die Augen und wogen den Schatz in ihren Händen, als wären es Murmeln. Doch der Schatz war echt, und das Glück der Familie gemacht. Die drei Krämer jedoch wurden in jener Gegend nie mehr gesehen, und ihre steinernen Bündel stehen bis heute am Wegesrand des Diegtertals.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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