Januar: Der stille Neubeginn

Der Januar ist der Monat des Endes und des Anfangs zugleich. Sein Name geht auf den altitalienischen Gott Janus zurück, der mit seinen zwei Gesichtern sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft blickt.

Der Tempel des Janus in Rom hatte zwei Tore: Im Krieg standen sie offen, im Frieden geschlossen. Bis zur Zeit des Augustus soll dies nur ein einziges Mal der Fall gewesen sein.

Dass der Januar heute der erste Monat des Jahres ist, verdanken wir einem historischen Zufall. Ursprünglich begann das neue Jahr im alten Rom mit dem ersten März, wenn der Frühling nahte und die neuen Konsuln ihr Amt antraten. Doch als gegen Ende des Jahres 154 v. Chr. ein Aufstand in Spanien ausbrach, entschied man, die neuen Konsuln schon im Januar ins Amt zu rufen, um einen nahtlosen Übergang im Oberkommando zu gewährleisten. So wurde der Januar der erste Monat des Jahres – eine Entscheidung, die bis heute Bestand hat.

Im Januar steht die Welt still und schweigt. Die kahlen Bäume strecken ihre knorrigen Äste wie hilflose Gesten gen Himmel. Selbst wenn die Sonne ihre schwachen Strahlen über das Land wirft, bleibt alles leblos, unberührt vom Kreislauf des Werdens und Vergehens. Es scheint, als wäre die Natur in einen hoffnungslosen Schlaf versunken, ohne Aussicht auf neues Leben. Doch täuschen wir uns vielleicht? Die Nächte greifen noch weit in den Tag hinein, doch bereits beginnt das Licht, täglich ein paar Minuten zurückzugewinnen. Und wenn wir tiefer blicken, erkennen wir ein verborgenes, doch mächtiges Werden.

Alles Lebendige ist ein Geheimnis, das sich nur jenen offenbart, die über das Offensichtliche hinausgehen. Die Natur mag in ihrer Winterruhe erstarrt wirken, doch unter der Oberfläche regt sich das Leben auf besondere Weise. Wenn die schwarzen Baumskelette in die weisse Landschaft ragen, wird das kurze Erscheinen eines Hasen oder Rehes zwischen ihnen zu einer Offenbarung. In der stillen, kalten Welt berührt uns das Geheimnis des Lebens direkt, erinnert uns an unsere eigene Existenz, die wie ein Atemzug im Wechselspiel von Sein und Nichtsein verweilt.

Wenn die Zeit im Januar scheinbar stillsteht, spricht die Natur auf besondere Weise zu unseren Sinnen. Die Stille beginnt zu atmen, und wir erahnen das grosse Wechselspiel der Kräfte, das uns das weisse Land und die schwarzen Bäume symbolhaft vor Augen führen. Was das Jahr sonst verdeckt, wird nun offenbar; die Kräfte zeigen sich in ihrer reinen Form. So wie wir sie draussen erkennen, wirken sie auch in unserem Inneren. Die Ruhe des Januars, die wir oft als Erstarrung empfinden, ist in Wahrheit ein tiefes, kraftvolles Atemschöpfen. Die Energien des vergangenen Jahres haben sich ins Innere zurückgezogen, und dort, im Verborgenen, bereitet sich das neue Leben vor, das im Laufe des Jahres in all seiner Schönheit und Pracht erblühen wird.

In den Stämmen der Bäume, in den Zwiebeln und Knollen der Pflanzen sammelt sich eine ungeheure, verhaltene Kraft. Aus dem Tod des vergangenen Jahres wird ein neues, schöneres Leben geboren. Tod und Leben, sie bedingen einander und sind untrennbar miteinander verbunden. Sie sind der Ein- und Ausatem des ewigen, göttlichen Zyklus.

Erklärungen zu den Begriffen:

  • Janus: Ein römischer Gott mit zwei Gesichtern, der sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft blickt. Sein Name und seine Symbolik stehen für Übergänge und Neuanfänge.
  • Konsuln: Die höchsten Amtsträger in der römischen Republik, die jährlich neu gewählt wurden und für die Leitung des Staates verantwortlich waren.
  • Janustempel: Ein Tempel in Rom, dessen Tore im Krieg offenstanden und im Frieden geschlossen waren, was die Macht und den Einfluss des Gottes Janus symbolisierte.
  • Winterruhe: Die Zeit im Winter, in der die Natur sich zurückzieht und scheinbar stillsteht, während im Verborgenen bereits das neue Leben vorbereitet wird.
  • Wachstumsgeister: In vorchristlichen Vorstellungen Geister, die den Zyklus des Wachstums und des Lebens beeinflussen und durch Rituale geweckt werden sollen.

 

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Über

Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

FOLGEN

NEWSLETTER

BodeständiX
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.