Goldner

Vor vielen Jahren lebte einmal in einem dichten Wald ein armer Hirt mit seiner Familie. Er hatte mitten im Wald ein kleines Holzhaus gebaut, in dem er mit seiner Frau und seinen sechs Söhnen lebte.

Vor dem Haus gab es einen Ziehbrunnen und ein kleines Gärtchen, das Gemüse für die Familie hervorbrachte. Der jüngste Sohn hatte Haare, die so golden glänzten, dass seine Eltern ihn «Goldner» nannten. Trotz seines jungen Alters war er der stärkste und grösste unter seinen Brüdern.

Jedes Mal, wenn die Kinder in den Wald gingen, führte Goldner sie mit einem Zweig in der Hand an, denn keiner wollte als Erster ein Abenteuer erleben. Doch wenn Goldner voranging, folgten ihm die Brüder mutig und voller Freude, selbst wenn die Dämmerung bereits den Wald verdunkelte und der Mond über den Gipfeln aufstieg.

Eines Abends, auf dem Rückweg vom Vater, spielten die Brüder ausgelassen im Wald. Goldner stürzte sich so begeistert in die Spiele, dass er leuchtete wie das Abendrot. Doch bald meinte der älteste Bruder: «Lasst uns umkehren, es wird dunkel.» –  «Schaut, dort ist der Mond!», rief der zweite. Plötzlich wurde es hell zwischen den dunklen Tannen, und eine Gestalt, die wie der Mond selbst schimmerte, setzte sich auf einen moosigen Stein. Sie spann mit einer kristallklaren Spindel einen leuchtenden Faden in die Nacht und nickte Goldner zu. Dabei sang sie:

Der weisse Fink, die goldne Ros’,
Die Königskron im Meeresschoss.

Doch bevor sie weitersingen konnte, riss der Faden, und die Gestalt verschwand, als hätte sie nie existiert.  Die Dunkelheit kehrte zurück und ergriff die Herzen der Kinder mit Furcht. In ihrer Panik liefen sie schreiend davon, jedes in eine andere Richtung, über Felsen und Schluchten. Bald war eines vom anderen getrennt.

Tagelang irrte Goldner allein durch den dichten Wald, hungrig und durstig. Er fand weder seine Brüder noch die Hütte seines Vaters. Der Wald war so dicht verwachsen, dass ein Berg den anderen überragte und tiefe Schluchten sich dazwischen auftaten. Die wilden Brombeeren, die er unterwegs pflückte, stillten zumindest seinen Hunger und Durst. Am dritten Tag – manche sagen erst am sechsten – lichteten sich die Bäume, und er trat auf eine weite grüne Wiese hinaus. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn, und er atmete die frische Luft tief ein.

Auf der Wiese waren Netze ausgelegt, denn hier lebte ein Vogelsteller, der die Vögel fing, die aus dem Wald kamen, um sie in der Stadt zu verkaufen. «Dieser Junge kommt mir gerade recht», dachte der Vogelsteller, als er Goldner sah, der verträumt in den Himmel blickte. Schnell zog er seine Netze zusammen, und im Handumdrehen war Goldner gefangen. «So fängt man die Vögel aus dem Wald», rief der Mann lachend. «Du bist mir ein gerissener Bursche. Bleib bei mir, und ich werde dir das Vogelfangen beibringen!» Goldner, der jede Hoffnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden, stimmte zu.

Nach einigen Tagen forderte der Vogelsteller ihn auf: «Zeig, was du gelernt hast!» Goldner warf die Netze aus und fing gleich beim ersten Versuch einen schneeweissen Finken. Doch der Vogelsteller schrie zornig: «Weg mit dir und diesem Vogel! Du hast es mit dem Bösen zu tun», und jagte Goldner davon, während er den Finken unter Flüchen zertrat.

Goldner verstand die Worte des Vogelstellers nicht, doch er machte sich erneut auf die Suche nach seiner Familie. Tag und Nacht lief er durch den dichten Wald, stolperte über Felsen und Baumwurzeln, bis er schliesslich an einen prächtigen Garten gelangte, der voller duftender Blumen stand. Die Farbenpracht und die Düfte betörten ihn, und er blieb staunend stehen. Der Gärtner bemerkte ihn und sprach: «So einen Jungen brauche ich gerade. Bleib bei mir!» Goldner stimmte zu, denn das Leben in diesem Garten erschien ihm bunt und sorglos, und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner Familie war längst verflogen.

Eines Morgens sagte der Gärtner zu ihm: «Geh in den Wald und bring mir einen wilden Rosenstock, damit ich edle Rosen darauf veredeln kann.» Goldner kehrte mit einem Ast voller goldener Rosen zurück, so leuchtend, als hätte sie ein Goldschmied für einen König gefertigt. Doch der Gärtner schrie zornig: «Verschwinde mit diesen verfluchten Rosen!» und trat die goldenen Blüten in den Boden, während er Goldner aus dem Garten jagte.

Zum dritten Mal irrte Goldner durch die Wildnis, bis er schliesslich das weite, blaue Meer erreichte. Die Sonne spiegelte sich wie flüssiges Gold auf den Wellen, und prächtig geschmückte Schiffe segelten vorbei. Eine kleine Fischerbarke lag am Ufer, und Goldner stieg ein. «Ein Junge wie du könnte uns nützlich sein», sagten die Fischer und stachen mit ihm in See.

«Zeig, ob du Glück hast», forderte ein alter Fischer mit silbernem Haar ihn auf. Goldner, ungeübt und nervös, liess das Netz in die Tiefe sinken. Beim Einholen zog er eine prachtvolle Krone aus purem Gold heraus. «Das Schicksal hat entschieden», rief der alte Fischer aus und fiel vor Goldner auf die Knie. «Du bist unser neuer König! Vor vielen Jahren versenkte der alte König seine Krone im Meer, weil er keinen Erben hatte. Die Prophezeiung sagte, dass derjenige, der die Krone findet, unser König werden soll.»

«Heil unserem König», riefen die Fischer und setzten Goldner die Krone auf. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer über das Meer und bis ins Land hinein. Bald war das Wasser voller Boote und Schiffe, die mit Blumen geschmückt waren, um ihren neuen König zu begrüssen. Goldner, nun mit der goldenen Krone auf dem Kopf, stand an der Spitze des Schiffes und blickte ruhig auf die untergehende Sonne, die sich im Meer spiegelte.

Und so endete die Reise des Jungen mit den goldenen Haaren, der aus einem einfachen Hirtenjungen zum König des Meeresreiches wurde.

Hinweis:
Dieses Märchen habe ich, basierend auf einer Erzählung von Justinus Kerner (1786–1862), neu interpretiert und niedergeschrieben.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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