Ein Moment des Lichts

Vor kurzem war ich wieder einmal in Basel. Die Sonne schien freundlich vom Himmel, und ich schlenderte gemächlich durch die Strassen, als mir plötzlich ein kleiner Junge ins Auge fiel.

Er sass auf einer Bank auf der anderen Strassenseite, in eine viel zu grosse Jacke gehüllt, und liess seine Beine baumeln. Seine Augen waren fest auf seine gefalteten Hände gerichtet, und niemand schien ihn zu bemerken.

Plötzlich hob der Junge den Kopf und sah mich direkt an. Seine grossen, ernsten Augen schienen zu sagen: «Komm herüber!» Ohne dass ich es bewusst beschloss, trugen mich meine Füsse über die Strasse zu ihm hin. Ich setzte mich vorsichtig neben ihn und betrachtete ihn aus der Nähe.

«Na, kleiner Freund?» sagte ich mit einem Lächeln. «Was machst du denn hier ganz alleine?“ Der Junge antwortete nicht, sondern hob nur eine Hand und deutete auf die vorbeiziehenden Menschen. «Wartest du auf jemanden?» Er schüttelte den Kopf und wiederholte die Geste. «Beobachtest du die Menschen?» Er nickte und sah mich wieder an. Sein Gesicht war völlig regungslos, aber seine Augen waren wachsam und klug. Ich begann mir Sorgen zu machen. Was machte dieser kleine Kerl hier? Hatte ihn jemand vergessen? War er vielleicht einfach nur gelangweilt und suchte Abwechslung? Ein Kind allein unter all diesen Erwachsenen?

«Kann ich dir irgendwie helfen?» fragte ich schliesslich. Der Junge schwieg und senkte wieder den Blick auf seine Hände. Sollte ich ihn einfach wieder allein lassen? Doch er schien mich nicht weiter zu beachten, und so erhob ich mich langsam und machte mich auf den Weg zurück.

«Warte! Warte bitte!» Eilige, kleine Schritte kamen hinter mir her. Überrascht drehte ich mich um und sah den Jungen, der mich entschuldigend ansah. «Ich musste leider lange überlegen, aber ich habe beschlossen, dass du ein guter Mensch bist.» Unwillkürlich zuckten meine Mundwinkel, und ich ging in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.

«Ach ja?» fragte ich. Er nickte eifrig. «Warum bist du dir da so sicher?»

«Ganz einfach.» Er deutete auf die Menschen um uns herum. «Ich habe heute fünf Menschen gefragt, ob sie mich kurz umarmen könnten. Der Erste hat mich nur komisch angeschaut, zwei haben so getan, als ob ich gar nicht da wäre! Und die letzten haben gesagt, sie hätten keine Zeit und ich sollte lieber über meine Zukunft nachdenken. Keiner von ihnen hat mich wirklich wahrgenommen. Ausser dir.» Er holte tief Luft. «Deswegen wollte ich fragen, ob du mich in den Arm nehmen kannst. Nur ganz kurz, es tut nicht weh.»

Ich lachte leise und breitete die Arme aus. Ganz sanft legte der Junge seine Arme um meinen Hals und streichelte dabei vorsichtig mein Haar. «Die Welt ist oft so dunkel und die Menschen wandeln blind in ihrem Schatten.» Er löste sich von mir. «Ich wünsche mir, dass du stark bleibst und dein Licht bewahrst.»

Verblüfft sah ich ihn an und wurde noch erstaunter, als er sich vorbeugte und mir zwei schnelle Wangenküsschen gab. Ich blinzelte ungläubig. Er lächelte, trat einen Schritt zurück, knickste kurz und war im nächsten Moment verschwunden. Und ich hockte in der Menschenmenge, die zu beschäftigt war, um sich über meine Haltung zu wundern.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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