Ein kleiner Akt der Menschlichkeit

 

Diese Geschichte hat mir einst in den frühen 1970er Jahren der Buser Kari – im Dorf besser bekannt gewesen als «Rappa» – an einem jener langen Abende im Restaurant «Bad» erzählt. Rappa war viele Jahre ein hochgeachteter Dorfweibel, Lampist sowie Platzkassier beim FC Oberdorf. Und natürlich stand er den Vereinen bei der Billettkontrolle stets zur Verfügung – selbstverständlich in seiner markanten Uniform, die er mit sichtbarem Stolz trug. Tatsächlich war es diese Uniform, die ihn im Dorf zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit machte und ihn zu einem Symbol für Verlässlichkeit und Ordnung werden liess.

Damals sassen wir Jungen gerne in geselliger Runde mit den älteren Dorfbewohnern zu-sammen, die schon ein paar Biere mehr intus hatten und Anekdoten aus alten Zeiten erzählten. Doch an diesem Abend lag etwas Schweres in der Luft; Rappa, sonst ein Erzähler mit einem Faible fürs Schmunzeln, war ungewöhnlich ernst und nachdenklich. Niemand wusste so recht, was ihn bedrückte. Plötzlich setzte er sein Glas ab und begann, ohne grosse Einleitung, eine Geschichte zu erzählen.

«Also», fing er an, «damals stand ich erst seit Kurzem im Dienste als Dorfweibel, und mein Auftrag war alles andere als angenehm.» Den Namen des Greises, so erklärte er uns, würde er uns nicht verraten – «aus Pietät». Auch der Hund, der in seiner Geschichte eine Rolle spielte, hiess nicht wirklich Bello. Rappa erfand diesen Namen aus Respekt vor dem alten Mann.

Es war ein regnerischer Herbstmorgen, und Rappa stapfte griesgrämig durchs Dorf. Schon zum vierten Mal war er unterwegs, um den alten Mann aufzusuchen, der in einem armseligen Zimmer im obersten Stock eines alten Hauses lebte. Die Hundesteuer war längst überfällig, zehn Fränkli, doch der Alte hatte bisher keinen Rappen gezahlt. Der Gemeinderat hatte Rappa nun ausdrücklich befohlen, das Geld einzutreiben – und sollte es nicht klappen, dann solle er den Hund gleich mitnehmen, damit der lästige Fall endlich vom Tisch sei.

Auf dem Weg dorthin murmelte er vor sich hin: «Was braucht dieser arme Kerl eigentlich einen Hund? Er hat ja kaum genug zum Leben!» Der Alte lebte von knapp hundert Franken im Monat – eine AHV-Rente, die für fast nichts reichte. «Ehrlich gesagt», dachte Rappa, «täte ich ihm einen Gefallen, wenn ich ihm den Köter wegnähme.» Doch wie das bei Rappa oft war, waren seine Gedanken und sein Herz nicht immer im Einklang.

Oben angekommen, wo die Holzstufen zur Wohnung führten, hörte er bereits Bellos aufgeregtes Bellen. Der Hund schien instinktiv zu wissen, was auf ihn zukam. Mit einem kurzen Klopfen trat Rappa in die kleine Kammer des Alten, die so spärlich eingerichtet war, dass Bett, Schrank und Tisch, auf dem ein alter Spirituskocher stand, schon fast ineinander stiessen.

Der alte Mann, ein Greis von fast achtzig Jahren, sass am Tisch, eine geflickte Decke über den schmalen Schultern. Sein Blick war müde. «So, mein Lieber», sagte Rappa strenger, als ihm ums Herz war. «Ihr wisst ja, warum ich hier bin.» Der Hund, Bello, lag auf einem zerlumpten Teppichstück und schaute aufmerksam zwischen den beiden hin und her.

Der Alte seufzte und legte das Hemd, an dem er herumgeflickt hatte, langsam auf den Tisch. «Herr Buser, ich kann die Taxe heute noch nicht zahlen», sagte er leise. «Gestern musste ich neue Schuhe kaufen, und wenn ich die Miete zahle, bleibt mir kaum noch was für die nächsten Tage.»

Rappa verschränkte die Arme und suchte nach den richtigen Worten. Ihm war klar, dass der Alte so wenig hatte, dass der Hund fast sein einziger Trost war. Doch der Befehl des Gemeinderats war eindeutig. «Es tut mir leid», entgegnete er härter als gewollt, «aber wer einen Hund hat, der muss die Steuer zahlen. Wenn Sie die zehn Franken nicht zahlen, muss ich den Hund mitnehmen. So sind die Vorschriften.»

Der Alte schwieg, und seine Schultern sanken herab. In diesem Moment sah Rappa, wie die Augen des Alten wässrig wurden, und das Schweigen wog schwer. Ein Blick zur Seite, und er bemerkte, wie Bellos Ohren aufmerksam zuckten. Der Hund spürte wohl die drohende Trennung und begann leise zu winseln. Rappa fuhr sich unruhig in den Hemdkragen, der plötzlich drückte.

«Also gut», murmelte er, um sich selbst zu ermahnen. Langsam zog er die Leine aus der Tasche, hängte sie Bello um den Hals und führte den Hund, der sich wehrte und jämmerlich jaulte, aus der Kammer. Auf dem Weg nach unten hielt er kurz inne und lauschte, wie der alte Mann oben im Halbdunkel der Treppe stand und ein letztes Mal nach Bello schaute. Ein schweres Gefühl machte sich in Rappa breit.

Als er unten im Hausflur stand, sah er auf den Hund hinab, der jetzt still und ergeben auf der Treppenstufe lag. «Der Hund ist wirklich alles, was der Alte noch hat», dachte er. Plötzlich tauchten Erinnerungen in ihm auf, wie er selbst vor Jahren jemanden verloren hatte und wie ihm das Herz brach. Da wusste er, was zu tun war.

Rappa griff nach seinem Geldbeutel, zog zwei Fünfliber hervor und steckte sie in die Jackentasche. «Das ist für den Gemeinderat», murmelte er entschlossen. Mit einem ruhigen Griff befestigte er die Hundemarke, die er für alle Fälle mitgenommen hatte, an Bellos Halsband. Dann löste er die Leine und tätschelte dem Hund den Rücken. «Lauf zurück zu deinem Herrchen», flüsterte er.

Bello schoss die Treppe hinauf, und Rappa blieb einen Moment allein im Flur stehen, während ihn eine warme Zufriedenheit erfüllte. Als er schliesslich hinaustrat, sah er zum Himmel und stellte fest, dass die dichten Regenwolken ihm seltsamerweise viel heller erschienen als zuvor.

 

4 Kommentare

  1. Göni Haltinner

    Nächstenliebe nennt man das!!

  2. Hanspeter Gautschin

    Ja, das könnte man so nennen.

  3. Elvira

    Berührende Geschichte

  4. Hanspeter Gautschin

    Danke Elvira!

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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