Ein Herz aus Stein

Es war eine finstere Zeit, als das Waldenburgertal unter der erbarmungslosen Herrschaft des grausamen Landvogts Ritter Hans von Waldenburg litt.

Hoch oben auf seiner Burg thronte er, sein Herz hart wie der Stein, auf dem seine Festung errichtet war. Die Bauern erzählten sich von seiner Grausamkeit, von den erdrückenden Steuern, die er ihnen abverlangte, und von den gnadenlosen Strafen, die er über jeden verhängte, der es wagte, sich zu widersetzen. Der Landvogt kannte keine Gnade, und die Menschen lebten in ständiger Angst vor seinen Launen.

Eines trüben Herbsttages ritt der Landvogt, stolz auf seinem Ross, aus der Burg. Der Himmel hing tief und grau, als ob er selbst die Bosheit dieses Mannes beklagte. Die Blätter stoben im Wind, während der Landvogt mit hochmütigem Blick die Zugbrücke passierte. Seine Gefolgsleute folgten ihm stumm – bereit, erneut seinen Willen im Tal durchzusetzen und den Menschen das Letzte zu nehmen.

Kaum hatte er das Burgtor verlassen, erblickte er am Wegrand eine Frau. Sie war ausgezehrt, ihre Kleider abgetragen, und doch strahlte sie eine Entschlossenheit aus, die sich in ihrem Blick spiegelte. In den Händen hielt sie eine einfache Schale, fest an ihre Brust gedrückt, als sei sie das Kostbarste, was sie noch besass.

Der Landvogt zügelte sein Pferd und blickte verächtlich auf die Frau herab.
«Weib, mach Platz!», rief er scharf.
Doch sie wich nicht. Ihr Blick blieb unbeugsam auf ihn gerichtet.

«Herr, ich bitte Euch», sagte sie ruhig, doch in ihrer Stimme lag flehende Dringlichkeit. «Meine Kinder hungern. Sie haben seit Tagen nichts gegessen. Gebt uns ein Stück Brot aus Eurem Überfluss. Ich flehe Euch an.»

Der Landvogt lachte hart auf, ein kaltes, grollendes Lachen, das von den Burgmauern zurückgeworfen wurde. Seine Gefolgsleute grinsten finster.
«Brot?», spottete er. «Warum sollte ich dir, einem bettelnden Weib, Brot geben? Was hast du, das mir nützen könnte?»

Doch die Frau wich nicht zurück. Mit fester Hand griff sie nach den Zügeln seines Pferdes.
«Ich habe nichts, Herr», sagte sie klar. «Nichts – ausser dem Hunger meiner Kinder.»

Der Landvogt zog verärgert die Augenbrauen zusammen.
«Du forderst Brot?»
Er wandte sich an einen seiner Diener.
«Hol mir Steine», befahl er mit schneidender Stimme.

Der Diener gehorchte, hob einige Steine vom Boden auf und reichte sie seinem Herrn. Mit einem kalten Lächeln beugte sich der Landvogt zu der Frau hinab und liess die Steine in ihre Schale fallen.
«Hier», sagte er spöttisch, «das wird für deine Kinder lange reichen. Damit kannst du ihren Hunger stillen – mehr haben sie nicht verdient.»

Die Frau sah stumm auf die Steine in der Schale. Die Luft um sie herum wurde plötzlich kälter, das Rascheln der Blätter verstummte. Langsam hob sie den Blick. In ihren Augen glomm ein dunkles Leuchten. Ihre Stimme war leise, doch durchdrungen von unheilvoller Macht:
«So werde auch du zu Stein», flüsterte sie. «Für deine Grausamkeit, für deinen Hohn, für all das Leid, das du über uns gebracht hast, verfluche ich dich. Dein Herz ist längst zu Stein geworden – nun soll dein Körper folgen.»

Der Landvogt wollte erneut lachen – doch diesmal blieb ihm das Lachen im Hals stecken. Ein eisiger Schauer durchfuhr ihn. Plötzlich spürte er, wie seine Hände, die die Zügel hielten, schwer und unbeweglich wurden. Panik ergriff ihn, als sich die Starre in seinem Körper ausbreitete. Seine Beine versagten, seine Finger erstarrten – und seine Gefolgsleute sahen entsetzt zu, wie seine Haut langsam grau wurde, als würde er von innen heraus versteinern.

«Was … was geschieht mit mir?», stammelte er. Doch seine Stimme verlor an Kraft. In einem letzten, verzweifelten Versuch, sich zu rühren, fiel er vom Pferd. Als sein Körper auf dem Boden aufschlug, war er nicht mehr aus Fleisch und Blut – er war zu Stein geworden. Seine Augen, weit aufgerissen vor Schrecken, blickten starr in die Leere.

Die Gefolgsleute, Zeugen dieses schrecklichen Geschehens, flohen in Panik. Keiner wagte es, sich der versteinerten Gestalt zu nähern. Und bis heute, so erzählt man im Waldenburgertal, steht der Landvogt als Steinfigur am alten Burgtor – eine ewige Mahnung an die Macht des Fluches und die Rache der Unterdrückten.

Von der Frau aber fehlt jede Spur. Manche sagen, sie sei eine Hexe gewesen. Andere glauben, sie sei ein Engel der Gerechtigkeit, gesandt, um den Tyrannen zu richten. Doch was auch immer die Wahrheit ist – keiner, der die Gerechtigkeit verhöhnt, entkommt dem Fluch der Vergeltung.

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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