Es war der 24. Dezember, Heiligabend, und das Städtchen Liestal lag unter einer dicken Schneedecke.
Die Strassen waren voller Menschen, die ihre letzten Einkäufe erledigten. Über den Trottoirs hingen Lichterketten, und aus den Schaufenstern leuchteten Weihnachtsdekorationen. Die Luft war kalt und klar, und die Schneeflocken fielen wie kleine Kristalle aus dem dunklen Himmel.
Am Rand des hektischen Treibens, vis-à -vis des Bahnhofs, stand eine Frau in einem abgetragenen Mantel vor dem Gerichtsgebäude. Maria wartete, ihre Finger steif vor Kälte, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, sich zu bewegen. Es war ihr, als sei ihr Herz festgefroren. Ihr Sohn Paul, erst dreizehn Jahre alt, stand heute vor dem Jugendgericht in Liestal. Der Vorwurf: Ladendiebstahl.
Für Maria und ihren Mann Georg war es ein Schock gewesen, als sie den Brief der Behörden erhalten hatten. Paul war doch ihr Stolz, ein begabter Schüler, der regelmässig die besten Noten nach Hause brachte. «Er wird einmal etwas Grosses erreichen», hatte der Lehrer oft gesagt. Sie hatten alles getan, um ihm die besten Chancen zu geben. Georg, der in einer Uhrenfabrik im Waldenburgertal arbeitete, hatte sogar das Rauchen aufgegeben, und Maria sparte an allen Ecken und Enden, damit Paul die Schule besuchen konnte. «Er soll’s besser haben als wir», hatten sie immer gesagt.
Doch nun stand ihr Junge vor Gericht. Die anderen Buben im Quartier hatten ihn zu einer Mutprobe herausgefordert. Paul hatte sich hinreissen lassen, einen Korb Äpfel auf dem Markt zu stehlen, nur um zu beweisen, dass er sich etwas traue.
Die Kirchenglocken der Stadtkirche begannen zu läuten, als die schweren Türen des Gerichts aufschwangen. Der Beamte trat hinaus, gefolgt von einem bleichen Mann und einem Jungen, der den Kopf gesenkt hielt. Georg und Paul. Der Vater legte eine schwere Hand auf die Schulter seines Sohnes, der zitterte, sei es vor Kälte oder vor Angst.
«Mami!», rief Paul, als er seine Mutter sah, und rannte ihr entgegen. Die Tränen schossen ihm in die Augen, und er vergrub sein Gesicht in ihrem Mantel. «Es tut mir so leid», stammelte er.
Georg trat zu ihnen und sprach mit rauer Stimme: «Der Richter war gnädig. Er hat ihm eine letzte Chance gegeben.» Ein Zittern durchlief ihn, als er fortfuhr: «Aber wenn er nochmals etwas anstellt…» Er brachte den Satz nicht zu Ende.
«Warum, Paul?», fragte Maria mit bebender Stimme, während sie ihm über den Kopf strich. «Warum hast du das gemacht?»
Paul hob den Kopf und schluchzte. «Die anderen haben mich gereizt, Mami. Sie haben gesagt, ich sei ein Feigling und würde mich nie trauen, etwas Verbotenes zu tun. Da habe ich’s gemacht – nur, um ihnen zu zeigen, dass ich’s kann.»
Georg schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. «Wir haben ihm immer gesagt, dass er alles schaffen kann, wenn er sich Mühe gibt. Und jetzt…» Seine Stimme brach, und er biss sich auf die Lippen.
Plötzlich trat der Richter, ein älterer Herr mit ernster Miene, aus dem Gebäude und ging auf die Familie zu. «Frau und Herr Meier», begann er. «Ihr Sohn hat grosses Glück gehabt, dass wir ihm heute Nachsicht gewährt haben. Er hat versprochen, sich zu bessern. Aber das ist seine letzte Chance.» Er wandte sich direkt an Paul. «Junge, du bist klug. Verschwend‘ deine Begabung nicht. Halte dein Wort.»
Paul schaute den Richter an, dann seine Eltern. «Ich verspreche es», sagte er leise, aber bestimmt. Der Richter reichte ihm die Hand, und Paul schüttelte sie mit einem festen Griff.
«Das ist gut», sagte der Richter. «Und vergiss nicht: Das wahre Geschenk zu Weihnachten ist nicht, was man bekommt, sondern wie man sich im Leben bewährt.»
Als die Familie schliesslich den Heimweg antrat, liess der Schneefall etwas nach, und die Strassen von Liestal leerten sich langsam. Die Weihnachtsbeleuchtung spiegelte sich im frischen Schnee, und aus den Fenstern der alten Bürgerhäuser erklangen Weihnachtslieder. Es war eine stille Nacht, und die Kälte schien ihre Gesichter zu beissen, doch in ihren Herzen breitete sich langsam eine wohlige Wärme aus. Sie hatten keine Geschenke, keinen geschmückten Baum, aber sie hatten etwas viel Wertvolleres erhalten: die Hoffnung, dass Paul eine zweite Chance nutzen würde.
In ihrer kleinen Wohnung in einem alten Mietshaus angekommen, stellte Georg den Teekessel auf den Herd, während Maria die alten Kerzen anzündete, die sie noch vom letzten Jahr aufbewahrt hatte. Paul sass am Tisch und blickte seine Eltern an. «Ich werde euch nicht mehr enttäuschen», sagte er mit fester Stimme. «Ich werde mich bessern.»
«Das glauben wir dir», sagte Maria und küsste ihn sanft auf die Stirn.
Und so sassen sie zusammen, die kleine Familie, während draussen der Schnee leise fiel und die Glocken aus der Ferne erklangen. Kein festliches Mahl, keine glänzenden Geschenke – nur das Band der Liebe und des Vertrauens, das sie in dieser kalten Winternacht umgab. Das war ihr göttliches Geschenk.
Hinweis:
Diese Geschichte ist frei erfunden und jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen, lebend oder verstorben, ist rein zufällig. Die Handlung spielt in den 1950er Jahren.
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