Die Liebe wanderte, verborgen in der Gestalt einer dunkel verhüllten alten Frau, durch ein Land, das vom Krieg gezeichnet war.
Überall sah man Schutt, Trümmer, Krankheit, Hunger, Armut und Not. Doch niemand erkannte die Liebe als das wertvollste aller Wesen. Ihr warmes rotes Kleid blieb unter dem Mantel verborgen, verborgen vor den Augen der Menschen.
All ihre geliebten Kinder – Erbarmen, Güte, Wohlwollen und Verzeihen – hatte Mutter Liebe im Krieg verloren. In einer grausamen Nacht waren sie ihr genommen worden. Doch sie gab die Suche nach ihrem einstigen Glück nicht auf, auch wenn die Menschen sie nur verspotteten.
«Erbarmen? Güte? So etwas gibt es nicht mehr», höhnte ein Mann und spuckte verächtlich auf den Boden. «Kinder des Lichts? Die wirst du hier nicht mehr finden.» Er zeigte auf die Menge dunkler Gestalten, die im Schatten wühlten: Hass, Lüge, Streit und Kälte hatten ihren Platz eingenommen.
Mutter Liebe fühlte sich müde und schwach, fast bereit, aufzugeben. Sie schleppte sich zur Treppe einer kleinen Kirche, sank erschöpft nieder und blieb regungslos. Sie wollte in die Kirche gehen, um Gott um Erlösung zu bitten, doch stattdessen schlief sie tief ein. Während sie ruhte, näherten sich ihre alten Schwestern – Demut, Leid und Frömmigkeit. Leise hielten sie bei ihr Wache.
Im Inneren der Kirche kniete Svitlana, eine junge Frau aus der Ukraine, vor dem Altar. Ihre Heimatstadt war zerstört, doch sie hatte beschlossen, zu bleiben und zu helfen. Sie sammelte Essen für Geflüchtete, betreute Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, und arbeitete unermüdlich, um inmitten des Chaos Hoffnung zu schenken. Ihr Elternhaus war ein Opfer der Gewalt geworden, und sie hatte ihren geliebten Verlobten Mykola zurücklassen müssen, der an die Front gerufen worden war. Jetzt betete sie um Kraft – für ihn, für sich selbst, für alle, die in diesen Zeiten leiden mussten.
Als Svitlana die Kirche verliess, stolperte sie fast über die schlafende Gestalt auf der Treppe. Die Frau war so still, dass Svitlana sie im ersten Moment für tot hielt. Doch dann bemerkte sie den leichten Atem und die Kälte, die von ihr ausging. Ohne zu zögern, zog Svitlana ihren Mantel aus und legte ihn der Frau um. Mutter Liebe erwachte und war tief berührt von Svitlanas Grossherzigkeit.
«Komm mit mir nach Hause», sagte Svitlana sanft. «Ich habe nicht viel, aber ein wenig Tee und Wärme kann ich dir bieten.» Die Liebe folgte ihr, dankbar und voller neuer Hoffnung.
In Svitlanas bescheidenem Zuhause war es kalt, doch die Fürsorge der jungen Frau wärmte die Liebe. Svitlana erzählte von ihrem Verlobten, der in den Kämpfen verschollen war, und von ihrem einzigen Wunsch: dass er lebend zu ihr zurückkehren möge. Mutter Liebe versprach: «Wünsche dir etwas, und ich werde alles tun, um es dir zu erfüllen.»
Svitlana schüttelte den Kopf. «Es gibt Dinge, die selbst du nicht ändern kannst.» Doch Mutter Liebe war entschlossen, ihr zu helfen.
Die Liebe musste über viele Brücken des Leids gehen, um Mykola zu finden. Schliesslich entdeckte sie ihn in einem verlassenen Haus am Waldrand. Der junge Mann hatte seine Uniform abgelegt und sich versteckt, weil er den sinnlosen Kämpfen entkommen wollte. Seine Augen waren leer, und seine Seele schien von Schuld und Angst zerfressen.
Mutter Liebe schlich sich in seine Träume. «Weisst du noch, wie wir früher Weihnachten feierten? Alle waren zusammen, voller Freude und Liebe. Und du, Mykola, hattest so viele Träume. Lass nicht zu, dass der Krieg dir alles nimmt.»
Als Mykola erwachte, war er ein anderer Mensch. Er packte das Wenige, was er besass, und machte sich auf den Weg zu Svitlana. Unterwegs half er anderen Geflüchteten, die sich versteckten, und suchte Trost in dem Gedanken, dass er mit Liebe statt mit Waffen kämpfen wollte.
An einem frostigen Weihnachtsabend erreichte er Svitlanas Stadt. Als er an ihre Tür klopfte, stürzte sie hinaus und fiel ihm in die Arme. Beide wussten, dass die Zukunft ungewiss war, aber sie hatten einander.
Mutter Liebe stand in der Dunkelheit und sah zu. Sie zog ihren dunklen Mantel aus, und unter ihrem roten Kleid begann ein neues Licht zu strahlen. Die Liebe würde weitergehen, durch jedes Handeln, jede Umarmung, jedes hoffnungsvolle Gebet.
Der Friede war noch fern, doch in den Herzen dieser beiden Menschen begann er zu wachsen. Und das war ein Anfang.
0 Kommentare