Ein Brief ans Christkind

Es war am Morgen drei Tage vor dem Weihnachtsfest, und die Postangestellten hatten alle Hände voll zu tun. Dennoch standen einige junge Angestellte beisammen, von denen einer einen Brief laut vorlas.

Plötzlich erschien Herr Brunner, der Posthalter, im Raum und warf einen verwunderten Blick auf die Gruppe. In einem etwas scharfen Ton fragte er: «Was gibt es denn hier so Spannendes?»

Die jungen Angestellten wichen verlegen zur Seite und der Vorlesende reichte Herrn Brunner das gefaltete Papier. Der Posthalter überflog den Inhalt, und über seine ernsten Züge flog ein Lächeln. Dann steckte er das Papier in die Rocktasche und entfernte sich schweigend.

Der Brief war von ungeübter Kinderhand geschrieben und lautete folgendermassen:

An das liebe Christkind im Himmel!

Liebes Christkind, verzeih mir, liebes Christkind, dass ich Dir schreibe, obwohl ich es noch nicht gut kann. Sieh, übermorgen ist das liebe Weihnachtsfest, und dann sollst Du ja kommen. Bei uns aber ist es so traurig, weil die Mutter krank ist und nichts verdienen kann. Nun hat sie gar geweint und gesagt: «Diesmal kommt das Christkind nicht zu uns, wir seien zu arm.» Das kann ich nun aber doch nicht fassen, dass Du gerade zu uns nicht kommen willst, denn der Herr Lehrer hat in der Schule gesagt, dass Du für die Armen und Traurigen auf die Welt gekommen bist und dass Du zu allen Menschen kämest, die Dich gerne aufnehmen. Und wir nähmen Dich ja so gerne auf! Drum bitte ich Dich herzlich, liebes Christkind, komme doch auch zu uns, es wäre sonst gar zu traurig. Wohnen tun wir an der Postgasse Nr. 74, im Hinterhaus, 4 Treppen hoch, Du kannst uns leicht finden. Liebes Christkindlein, vergiss es ja nicht, gell? Was wird die Mutter für Augen machen, wenn Du denn doch kommst! Oh, das muss herrlich werden! Adieu, liebes Christkind, und sei vielmals gegrüsst von Deiner Dich liebenden Martha.

Der Posthalter wollte das Brieflein seiner Frau zeigen und mit ihr beraten, wie man dem Kind seine Bitte erfüllen könne. Als er aber mittags nach Hause kam, fand er sein Töchterchen schwer krank mit hohem Fieber, sodass er vor Sorge und Angst das Briefchen in der Rocktasche vergass. Der Arzt setzte die entscheidende Krise auf den folgenden Abend fest, und Herr Brunner ging schwer bekümmert seiner Arbeit nach. Inzwischen wurde das Fieber bei seinem kranken Kind immer heftiger. Heisser glühten die Wangen, leuchtender wurden die Augen, und immer wilder warf es sich umher. Unverständlich flogen wirre Worte über die fiebertrockenen Lippen des Kindes, und angstvoll sahen die Eltern auf die abgemagerten Züge ihres Lieblings.

Am anderen Abend aber wurde es nach und nach ruhiger. Das Fieber liess nach, die Augen schlossen sich, und bald verkündeten regelmässige Atemzüge einen ruhigen Schlaf. Über die ernsten Züge des Arztes glitt ein zufriedenes Lächeln, und zu den Eltern gewendet, sagte er: «Danken Sie Gott, Ihr Kind ist gerettet und wird nun rasch genesen.»

Herr Brunner eilte daraufhin in sein Büro, um noch einige wichtige Arbeiten zu erledigen. Als er später wieder nach Hause kam, trat ihm seine Frau entgegen. Mit einem Ausruf des Glücks sank der Vater am Bettchen nieder und dankte Gott für seine Güte.

«Papa, ich glaube, ich werde bald wieder gesund, denn ich weiss ein Mittel dazu. Mir träumte, ich sei so krank gewesen, dass Mutter und Du gemeint hättet, ich müsse sterben, und Ihr weintet deshalb. Und ich musste auch mitweinen. Da trat ein schönes Engelein an mein Bett und sagte: «Weine nicht, liebe Claudia. Komm, nimm Deine schönen Kleider und Spielsachen und gib sie armen Kindern zu Weihnachten. Dann wirst Du wieder gesund. Nachher entschwand das Engelein. Gell, lieber Vater, ich darf tun, was der Engel von mir gewünscht hat? Oh, ich möchte so gerne leben und nicht sterben.»

Innig schloss der glückliche Vater sein Kind in die Arme und versprach ihm, seinen Wunsch zu erfüllen. Da fiel ihm plötzlich das vergessene Brieflein in der Rocktasche wieder ein. Er trat zu seiner Frau, gab es ihr zu lesen und erzählte ihr auch den Traum ihres Lieblings. So waren sie schnell einig, was zu tun sei.

Am Weihnachtstag, als in den Strassen das lebhafte Gedränge schon einer friedlichen Stille gewichen war, hielt ein Auto vor dem Hause Postgasse Nr. 74. Zwei Herren stiegen die vier Treppen zur Wohnung der Witwe Meier hinauf. Dort angekommen, traten sie in ein ärmliches, aber sauberes Stübchen. Eine bleiche Frau lehnte auf einem Stuhl am Ofen, während drei kleine Kinder am Boden sassen und mit farbigen Papierstreifen spielten. Ein Mädchen von etwa acht Jahren stand am Fenster und blickte sehnsuchtsvoll in ein gegenüberliegendes Fenster, wo ein Christbaum brannte. Grosse Tränen standen in ihren Augen, als sie sich umwandte, um erstaunt die fremden Herren zu betrachten.

Einer der Herren stellte sich als Arzt vor, untersuchte die Frau, verschrieb eine Arznei und versprach, morgen wiederzukommen. Der andere Herr trat zu dem Mädchen und sagte: «Du bist wohl die kleine Martha, die dem Christkind den schönen Brief geschrieben hat. Schau, das Christkind hat mich beauftragt, Dich zu grüssen und Dich und Deine Mutter und Geschwister zu ihm zu bringen. Mache Deine kleinen Geschwister zum Ausgehen bereit.»

Die Kinder jubelten, und bald sassen sie im Auto, das vor einem schönen Haus hielt. Dort erwartete sie ein warmes, einladendes Zimmer. In einem anderen Raum stand ein hell strahlender Weihnachtsbaum mit zahlreichen Geschenken darunter. Hinter dem Baum lag ein blasses Mädchen in einem schneeweissen Bett, das glücklich die neuen Gäste betrachtete. Die Kinder konnten sich vor Freude kaum halten. Während die Mutter eine Erfrischung erhielt, liessen die Kleinen ihrem Jubel freien Lauf.

Am Ende des Abends übergab das blasse Mädchen der kleinen Martha ein grosses Paket, ebenso jedem der anderen Kinder und der Mutter. Die Frau des Posthalters füllte einen Korb mit Leckereien, und die Gäste verabschiedeten sich voller Dankbarkeit. Zurück in ihrer Wohnung staunten sie, denn dort erwartete sie ein warmes Heim mit Lampe, Teppich, gedecktem Tisch und einer freundlichen Frau, die ihnen helfen wollte, bis die Mutter wieder gesund sei.

Dieses Weihnachtsfest brachte Glück und Heilung für alle. Die Meiers fanden Hilfe, und die Familie des Posthalters erlebte die Freude des Gebens.

Unsere Lehrerin hat uns in der zweiten Primarklasse kurz vor Weihnachten diese Geschichte erzählt. Sie zeigte uns damit, wie Nächstenliebe und Zusammenhalt selbst in schwierigen Zeiten ein Weihnachtswunder bewirken können.

 

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Ich bin Hanspeter Gautschin, Erzähler und Autor von BodeständiX – Geschichten, die bleiben.

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